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Manuel

"Mierda!", brülle ich und boxe gegen die Haustür, als ich Kiara in der Dunkelheit nicht mehr sehen kann.
Aufgebracht rufe ich Julio an und bestelle ihn direkt nach Hause.

Wir müssen sie finden.

Ich muss sie finden.

Sie muss  zurück kommen, ich muss sie bei mir haben. Sie wird da draußen erfrieren in der Kälte. Es regnet, sie hat nichts zu Essen.

Wie konnte das passieren?
Nervös gehe ich in mein Büro, bevor ich feststellen muss, dass sie auch hier drin war. Die Bücher liegen auf meinem Schreibtisch - geöffnet. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange, während ich um den Schreibtisch herum gehe und den letzten geöffneten Tab auf meinem Bildschirm sehe.

Sie hat nach mir gegoogelt.
Schlagzeilen und Zeitungsartikel ohne Ende.

"Fuck.", schnaube ich und stütze mich auf meinem Schreibtisch ab.
Ich hatte gemerkt, dass sie misstrauisch war. Ich wusste, dass sie mir nicht alles abgekauft hatte. Aber die Leiche im Keller hat alles schlimmer gemacht.

Die Bilder wird sie nie wieder los.

Wird sie mir jemals wieder in die Augen sehen können, ohne Angst zu haben?

"Manuel? Manuel, wo ist Kiara? Was ist mit ihr?", ruft Silvia durchs Haus.

"Was ist mit ihr? Wo ist sie? Was hast du gemacht, mein Junge?"
Silvia stürmt aufgebracht in mein Büro und lässt die Lebensmitteln fallen.

"Was ich gemacht habe? Was ICH gemacht habe?", frage ich aufgebracht und gehe auf Julio zu, der dicht hinter meiner Haushälterin läuft.
"Dieser kleine Pisser hat die Leiche nicht entsorgt und Kiara hat sie gefunden. Den Mann, dem ich vor zwei Tagen die Kehle aufgeschlitzt habe!", brülle ich und drücke Julio am Kragen gegen die Wand neben der Tür.

"Boss-"

"Halt bloß deine Schnauze! Mein Mädchen ist weg und keiner von euch kommt mir wieder nach Hause, wenn wir sie nicht gefunden haben!", schreie ich und drücke Julio noch einmal fest vor die Wand.

Nach Luft japsend krümmt er sich.

"Ihr nehmt euch jetzt den Wagen und sucht alles ab! Wald, Straßen, Wege. Alles!", herrsche ich beide an.

"Manuel, du solltest jetzt so kein Auto fahren.", fleht Silvia mich mitleidig an

Wütend schüttel ich ihre Hand ab, die sich auf meine Schulter gelegt hat.
"Ich wiederhole mich: Niemand kommt mir nach Hause, wenn wir sie nicht gefunden haben!"

Dann stürme ich aus meinem Haus und steige in mein Auto, um nach ihr zu suchen. Zuerst fahre ich den Weg in die Favelas ab, weil ich hoffe, sie dort zu finden.

Vergeblich.
Die Leute starren mich und mein Auto an - wundern sich, was so jemand wie ich um diese Uhrzeit hier macht. Sie kennen mich, natürlich tun sie das.

Sie verstummen, schauen nur. Beobachten mich.
Einige kriegen Angst, weil sie nicht wissen, was ich hier will. Einige denken, dass ich hier bin um das Schutzgeld abzuholen, dass sie mir schulden.

Und ja, ich werde es abholen.

Aber nicht heute. Heute bin ich hier, um meine Kleine wiederzufinden.

Die Fahrt fühlt sich schrecklich an.
Einsam, hilflos.
Immer wieder muss ich mir die Tränen aus den Augen wischen, weil ich sonst die Fahrbahn nicht sehen kann.

Ich hasse dich.

Weder auf den Wegen zu ihrer Hütte, noch zwischen den Hütten in der Nachbarschaft kann ich sie finden.
Ihre Worte, die mir durch den Kopf spuken, schmerzen.

Sie tun mir weh.

Ein Schmerz, den ich seit dem Tod meiner Eltern nie wieder gespürt habe.

Du bist ein mieses Schwein, hörst du? Ich hasse dich

"Scheiße, Scheiße, Scheiße!", brülle ich und schlage wütend auf das Lenkrad. Das mein Handrücken blutet, weil ich gegen die Haustür geschlagen habe, spielt keine Rolle. Viel wichtiger ist Kiaras Leben.

Viel wichtiger ist, dass sie mit mir redet.

Sie hasst mich.

Sie hasst mich so sehr.

Während ich im Schritttempo über die holperigen Straßen fahre, schwirren ihre Worte immer wieder durch meinen Kopf.
Ich hasse dich. Ich hasse dich so sehr.

Es schmerzt, dass sie unsere Küsse bereut. Es schmerzt, dass sie meine Berührungen bereut.

Ihre Worte schmerzen immer mehr.

Ich bringe den Wagen zum Stehen und fahre mir mit beiden Händen übers Gesicht. Mit einem Puls, der bei 180 liegen muss, schaue ich aus der Windschutzscheibe.

Cemiterio do Araca 4 km

Friedhof.

Das ist meine letzte Chance. In den Club wird sie nichts zurück gegangen sein. Sie wird nicht vor mir wegrennen und dann in meinen Club fliehen.

Ich folge den Schildern zum Friedhof, den ich in dieser Stadt noch nie gesehen habe. Unsanft parke ich am Straßenrand und steige mit klopfendem Herzen aus. Er ist größer, als ich gedacht habe.
Und es ist dunkel.

Ich sehe nichts; ich weiß nicht, ob ich nicht schon drei Mal im Kreis gelaufen bin. In dieser Dunkelheit sieht alles gleich aus.

Mittlerweile hat der Regen nachgelassen, aber die Wiese ist feucht.

Matschig.
Ich habe Angst, dass sie meine Schritte auf dem feuchten Boden hört und wegläuft. Sie muss mir zu hören.

Sie muss.
Ich kann ihr alles erklären.

Eine Ewigkeit laufe ich auf dem Friedhof herum - verzweifelt.

Bis ich neben einem Grabstein eine Frau sitzen sehe.

Klein, zusammengekauert.

Mein Herz macht einen Satz.

Zitternd sitzt meine Kleine vermutlich am Grabstein ihrer Mutter, während meine Waffe unter ihrem Oberschenkel liegt.
Sie hat die Hände über ihren Kopf gelegt.

Hilflos, ratlos und verzweifelt.

Ich höre sie leise wimmern, je näher ich komme. Langsam und so leise wie möglich versuche ich mich zu nähern.
Sie darf nicht wegrennen.

"Mama.", höre ich sie leise weinen.

Ihre Stimme bricht mir das Herz. Ihr Zittern fordert mich fast schon dazu auf sie in meinen Arm zu nehmen. Sie soll aufhören zu weinen, sie soll aufhören zu zittern.

Sie soll nicht mehr wegen mir weinen, dios.

Ich wollte sie glücklich machen.

Stattdessen habe ich sie verletzt. So sehr, dass sie hier im Regen auf dem Friedhof sitzt. Sie hat niemanden, außer mich.

Ich trete in eine Pfütze und bleibe ruckartig stehen, doch da hat sie mich schon entdeckt. Sie reißt angsterfüllt ihre blauen Augen auf und robbt von mir weg.

Schnell greift sie noch zitternd nach meiner Waffe und richtet sie auf mich.

Langsam hebe ich meine Hände.
"Ich bin unbewaffnet. Ich tue dir nichts."

Sie japst und wimmert, während sie auf dem nassen Boden sitzt. Kiara ist erschöpft. So erschöpft, dass sie meine Waffe kaum noch richtig halten kann.

Schwarz wie die NachtWhere stories live. Discover now