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Manuel

"Wir können.", teile ich ihr mit und werfe mir meinen Mantel über.

Erst jetzt fällt mir auf, dass sie ihre Tasche gepackt hat.

"Ich mach das schon.", nehme ich ihr die Tasche ab und öffne ihr die Haustür. Mir entgeht nicht, dass sie meine Waffe fest in ihrer rechten Hand hält.
Während wir auf mein Auto zu laufen, erkenne ich, wie sie auf die Motorhaube starrt. Auch mir schießen die Erinnerungen durch den Kopf.

"Du kannst solange in meinem Club bleiben, wie du möchtest. Okay? Du hast alle Zeit der Welt, dir etwas neues zu suchen.", erkläre ich ihr, dass sie sich nicht stressen braucht. Bevor ich ihre Tasche auf die Rückbank stelle, überhole ich sie, um ihr die Tür zu öffnen.

"Danke.", murmelt sie und setzt sich ins Auto. Vorsichtig schließe ich die Tür und werfe anschließend ihre Taschen auf den Rücksitz, bevor ich mich zu ihr ins Auto setze.

"Ich möchte trotzdem nicht, dass du auf diese Bühne gehst. Wenn du 18 bist, können wir darüber sprechen. Aber trotzdem gelten in meinem Club die Jugendschutzgesetze.", lasse ich sie wissen, dass sie jetzt nicht aus trotz gegen meine Regeln verstoßen braucht.

"Und ich möchte nicht, dass du Menschen ermordest. In meinem Land gelten nämlich auch Gesetze. Unter anderem das Gesetz 'du sollst nicht töten'. Ist das in Mexiko anders?", spottet sie und schnallt sich an.

Angespannt befeuchte ich meine Unterlippe, während ich den Wagen starte und schnell vom Hof fahre.
Sie provoziert mich, aber das habe ich wohl verdient. Ich kann froh sein, dass sie überhaupt noch mit mir redet. Ich kann froh sein, dass sie überhaupt mit mir in einem Auto sitzt und sich von mir fahren lässt. Ich umgreife das Lenkrad fester, während ich über den Schotterweg in Richtung Autobahn fahre.

Als ich zu ihr herüberschaue, erkenn ich die Tränen, die sich in ihren Augen gebildet haben.

"Wein' nicht, bitte.", flüstere ich, weil es mir das Herz bricht, sie so zu sehen.

"Dann sag mir, dass das alles ein Missverständnis ist und du kein Mörder bist.", flüstert sie mit zitternder Stimme und zieht meine Winterjacke enger um ihren Körper.

Ich bleibe stumm, weil ich sie nicht anlügen will.

Sie schnaubt belustigt und wischt sich dann die Tränen aus dem Gesicht.
"War klar."

Bevor ich etwas erwidern kann, dreht sie das Radio lauter.

Meet you all the way
Meet you all the way, Rosanna yeah

Meet you all the way
Meet you all the way, Rosanna yeah

tönt es durch mein Auto.

Das Lied passt nicht zu unserer Stimmung. Es fühlt sich an wie in einem schlechten Film. Aber trotzdem glaube ich, dass es sie aufmuntert. Vielleicht tut Musik ihr gut.

Für die Fahrt zum Club brauche ich diesmal erstaunlich lange. Aber diesmal wünsche ich mir auch nicht, dass wir schnell da sind. Diesmal will ich, dass sie nie endet. Kiara soll niemals aus meinem Auto aussteigen.

Langsam - absichtlich langsam - lasse ich den Wagen in den Hinterhof rollen. Vor dem Club stehen so viele Leute und hier hinten ist sie wenigstens sicher. Ich habe noch nicht einmal den Wagen richtig ausgemacht, da hat sie schon die Tür geöffnet und ist aus dem Wagen gestürmt. Seufzend greife ich hinter ihren Sitz und nehme ihre Tasche mit, bevor ich ihr folge.

Vergeblich rüttelt sie an der Tür, weshalb ich mich an ihr vorbei dränge und den Generalschlüssel ins Schloss stecke, um ihr die Tür zu öffnen.
Ohne sich zu bedanken stürmt sie an mir vorbei und läuft direkt in ihr Zimmer.

Wie ein Idiot laufe ich ihr nach und stelle die Tasche vor ihre Tür, bevor ich zwei mal klopfe.
"Die Tasche steht vor der Tür. Ich bin im Büro, arbeiten."

Diesmal warte ich nicht auf eine Antwort von ihr, sondern gehe direkt zur Bar und bestelle mir eine Flasche Rum und Eis, bevor ich ins Büro gehe und den Laptop anschalte. Ich werde sie hier nicht alleine lassen. Wenn sie nicht bei mir schlafen will, dann schlafe ich eben hier.

Die Bässe hämmern durch den Club und brummen in meinen Ohren, während ich meine Mails checke.
Morgen muss ich unbedingt die Sache mit Kolumbien klären, dann muss Julio eben herkommen und auf meine Kleine aufpassen. Jedenfalls werde ich sie nicht aus den Augen lassen. Wenn ihr jetzt noch etwas passiert, werde ich mein Leben nicht mehr froh.

Ich könnte nie wieder in Ruhe ein Auge zu machen.

Sie versteht gar nicht, was ich dafür geben würde, niemanden mehr zu ermorden. Aber in diesem Geschäft geht es nicht anders. Ich habe keine Wahl; meine Familie hat keine Wahl. Man hat meine Eltern getötet. Getötet hat man sie, weil man meinem Onkel schaden wollte.

Meine Familie hat man zerstört.

Es ging ihnen einzig und alleine um meinen Onkel.

Tag und Nacht hat Miguel versucht, die Mörder zu finden.

Vergeblich.

Und jetzt sitze ich dran.
Ich werde alles tun, um diese Bastarde zu finden.
Und solange werde ich morden. Ich werde solange morden, bis die Bastarde bekommen, was sie verdienen.

Ich werde ihre Familie ausrotten; ich werde alles zerstören, so wie sie damals meinen Onkel und mich zerstört haben.

Aber das versteht Kiara nicht. Kiara weiß ja nicht einmal, warum meine Eltern tot sind. Das alles wollte ich ihr in Ruhe erklären, doch jetzt ist es zu spät.
Vielleicht hätte sie mich verstanden, wenn ich es ihr erklärt hätte.

Aber wann hätte ich das tun sollen?

Mir ist doch erst seit gestern bewusst, dass ich mich wirklich verliebt habe. Ich kann in diesem Business nicht jeder Frau erzählen, was ich bin und was ich mache. Das geht nicht. Dann würde ich jeden in Gefahr bringen.
Ich kann es erst erzählen, wenn ich mir sicher bin.

Wenn ich gewusst hätte, was wie mir einmal bedeutet, dann hätte ich es ihr direkt gesagt.

Ich hatte doch keine Wahl.

Versteht das niemand?

Schwarz wie die NachtWhere stories live. Discover now