Ich habe gelebt!

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,,Na komm schon. Wir sind ganz alleine." Ich hocke vor Gina, die in ihrem Rollstuhl sitzt und ein mürrisches Gesicht macht. 

Ich versuche sie zu überreden in einen Vortrag zu gehen. Ich weiß nicht genau worum es geht. Mir wurde nur gesagt, es geht um die Neue Selbstfindung und der Findung neuen Lebensmutes. Ich hätte auch überhaupt keine Lust. Wenn mich jemand in so einen beschissenen Vortrag stecken will, hätte ich auf jeden Fall Nein gesagt, aber es geht ihr im Moment so schlecht, dass ich nichts unversucht lassen will. 

Irgendwann lässt sie sich darauf ein und ich begleite sie zu diesem Vortrag. Es findet hier in der Klinik statt, in einem großen Saal. Es ist nicht der erste Vortrag der hier stattfindet. Natürlich nicht. Diese Motivations-Reden werden nicht nur für Gina gebraucht. Es ist erschreckend wie viele Leute hier sind. So viele Menschen, die genau an dem gleichen Punkt sind wie Gina. 

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Der Mann, der da vorne steht ist ein wirklicher Redenschwinger und mich nimmt es ehrlich gesagt sehr mit. Noch nie habe ich mich wirklich in Ginas Lage versetzen können. Das kann ich jetzt auch nicht, aber etwas in mir versucht zu verstehen was sie fühlen mag. Wie wenig Hoffnung in ihr steckt. Ich scheine allmählich ihren Konflikt in ihr selber mehr zu verstehen und ich muss aufpassen, dass ich nicht eine Träne verdrücke. 

,,Ein sehr kluger Mann, Franzose, geboren 1874, sagte einmal 'Im Alter bereut man vor allem die Sünden, die man nicht begangen hat'. Dieser kluge Mann hieß William Somerset Maugham. Er war der meistgelesene englischsprachige Autor des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie sie alle bemerkt haben, hier geht es ums Alter. Das Alter. Ich sehe hier niemanden älter als Mitte zwanzig. Die Frage ist doch dann, wieso sage ich Ihnen das? Wieso zitiere ich gerade diesen Mann? Wieso gerade diesen Satz? Dieser Mann wurde Einundneunzig Jahre. Er hat etwas gefunden, wodurch er erhört wurde. Im Alter. 

Ich frage mich nun, wer von Ihnen möchte das Alter erreichen, wo wir sagen können, Ja, das trifft auf uns zu! Wer möchte in diesem Alter sagen, Ich bereue das was ich nicht getan habe? Das will niemand! Wir sind nicht alleine! Natürlich. Wir alle sind in unserem Leben auf die Schnauze gefallen. Uns hat das Leben sozusagen mal richtig eins auf die Mütze gegeben. Aber das können viele von euch nicht sagen! Warum? Warum können sie das nicht sagen? Weil sie nicht mehr da sind. Sie haben es nicht geschafft. Aber ihr. Ihr sitzt hier, hört mich an. Einen Mann, der doch keinen blassen Schimmer hat, was er redet. Wenn ihr das denkt, dann habt ihr vielleicht recht." Er faltet seine Hände vor seinem Bauch und sieht in die große Runde, während er selber auf der Bühne steht. ,,Dann beantwortet mir die Frage, wieso seid ihr hier? Ich glaube ich kenne die Antwort. 

Euch hat ein Familienangehöriger hergeschickt. Ja, das ist das schlimmste, nicht wahr? Wie kann ein Mensch, der nicht weiß, was ihr durchmacht, von euch verlangen herzukommen und euch diesen Schwachsinn anzuhören? Wie kann dieser Mensch es wagen? Wieso macht er das? Ist es nicht egoistisch das von euch zu erzwingen? Bevor ihr euch auf mich stürzt, liebe Begleitperson, auch darauf habe ich eine Antwort. 

Ich kann euch sagen, dieser Mensch-diese Menschen wollen euch helfen." Er lacht. ,,Euch helfen. Wenn man das alles filmen könnte, dann würden diese Menschen sich selber auslachen. Nicht weil sie es versuchen. Weil sie erkennen, dass es sinnlos ist zu helfen. Was man tun kann, ist da sein. Könnt ihr mir da zustimmen? 

Vielleicht ist es an der Zeit, meine Geschichte zu erzählen. Ich erzähle so viel von euren Gefühlen, dabei kennt ihr meine Geschichte nicht. Ich bin hierzu gekommen, weil mich dieses Schicksal geprägt hat. Das was euch passiert ist, ist auch mir passiert. Kaum zu glauben. Ich stehe hier wie eine eins. Ich rede perfekt, man würde es nicht bemerken, wenn ich es nicht anspreche. Man sieht mein Bein nicht, denn das ist unter einer Hose versteckt." Er zieht sein Hosenbein hoch und es wird eine Protese sichtbar. ,,Unspektakulär, ich weiß. Ich hatte einen Unfall. Meine Chance lag bei zehn Prozent und ich lag nicht lange im Koma. Zwei Monate. Im Vergleich? Wer lag länger? Ja? Ich sehe es. Ich bin also die Ausnahme. Sie lagen alle viel länger in ihrem Krankenbett gefesselt und trotzdem habe ich das gleiche durchmachen müssen. Ich bin aufgewacht und musste mich erst mal an meine Familie erinnern. Können Sie sich die Augen meiner Familie vorstellen, die Hoffnungsvoll neben Ihrem Bett stehen, als Sie aufgewacht sind? Ich nicht. Für mich waren das Fremde. Und das sicherlich nicht nur für mich. Für einen Großteil dieser Gemeinschaft wird das stimmen. Inzwischen habe ich meine Erinnerung auffrischen können. Teile meines Lebens sind für immer weg. Es sind aber neue hinzugekommen. Ich habe jahrelang in meinem neuen zu Hause verbracht, in der Klinik, um Laufen zu lernen, Sprechen, Essen, Trinken, sogar Atmen. Ich lag da wie eine lebende Leiche und das dachten auch meine Eltern. Ich habe während meines Aufenthalts einen Freund gehabt. Er war mit mir in einem Zimmer. Er ist früher aufgewacht als ich, er war aber auch länger da. Wir haben uns gemeinsam wieder aufgebaut. Wir waren nach jahrelangem Training fast am Ziel, bis er aufgegeben hat. Ich dachte, wir hätten es fast geschafft, bis er seinen Willen verloren hat. 

I'm Yours.Where stories live. Discover now