64. Ihre Art

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P.O.V Lance

Mich quälte noch immer die Frage, warum Melissa letzten Samstagmorgen so abgeblockte. Schließlich hatte ich ihr doch nichts getan. Oder zumindest wüsste ich nicht, was ich falsch gemacht haben sollte. Vielleicht hätte ich dann nicht gehen, sondern bei ihr bleiben sollen. Doch manchmal braucht man wahrscheinlich mal Ruhe. Melissa selbst sagte ja noch, dass es nicht an mir lag. An was dann?

„Wir sehen uns.", sagte Enzo und gab mir einen verabschiedenden Handschlag. Er musste jetzt scheinbar in die andere Richtung zu seinem Zimmer, mich störte es aber nicht. Ich wusste nichtmal, über was wir gerade geredet hatten.

„Jup.", sagte ich und nickte ihm kurz zu, ehe wir getrennte Wege gingen. Ich hatte eine Freistunde. Totaler Mist wenn ihr mich fragt. Man sitzt in der Schule rum, kann nichts machen und wartet auf die nächste Stunde.
Also setzte ich mich einfach nach draußen auf unsere Mauer.

Auch wenn es ziemlich kalt war und der erste Schnee nicht mehr lang auf sich warten ließ, genoss ich die frische Luft. Wie es der Zufall so wollte war ich scheinbar nicht die einzige Person, welche sowohl eine Freistunde als auch das Bedürfnis nach frischer Luft hatte. Melissa lief ebenfalls auf die Mauer zu und es dauerte eine Weile, bis sie ihren Blick hob und mich erkannte.

„Hey.", sagte ich locker und rutschte etwas, damit Melissa auch platzt hatte. Sie sagte nichts, sondern setzte sich nur neben mich und legte ihren Kopf an meiner Schulter ab. Ihre Hände waren in den warmen Taschen ihrer Jacke vergraben und ihr Hals von einem dicken Schal verdeckt. „Willst du jetzt reden?", fragte ich sie, da ich noch immer nicht ganz glaubte, dass Melissa einfach ohne Grund zwei Tage nichts von sich hören ließ.

Von ihrer Seite kam wieder kein Mucks. Sie saß einfach nur schweigend an meine Schulter gelehnt da. Am Liebsten hätte ich sie zur Rede gestellt, doch in diesem Moment wirkte sie wieder so schüchtern und verletzlich. Ich hatte Angst, das wenn ich meine Worte falsch formulieren würde, sie wieder in Tränen ausbricht.

P.O.V Melissa

Schuldbewusstsein nagte an mir. Denn Lance hatte wirklich nichts getan. Es lag rein an mir und er sollte sich darüber doch keine Sorgen machen. Eigentlich war ich froh, dass er am Samstag wirklich verschwunden war und ich somit Zeit für mich hatte. Ich hätte ihn aber nicht halb rausschmeißen müssen.

Lance legte plötzlich den Arm, an welchem ich lehnte, um meine Taille, sodass ich noch näher an ihn heran rutschte. Auch wenn ich diejenige war, welche ihn weggeschickt hatte, genoss ich seine Nähe. Er tat mir irgendwie gut, aber wahrscheinlich war genau das der Fehler.

„Warum liebst du mich eigentlich?", flüsterte ich halb in meinen Schal hinein. Doch scheinbar hatte Lance es trotzdem verstanden, denn sein gesamter Körper versteifte sich etwas.

„Was?", fragte Lance hörbar verwirrt. Sein Kopf, welcher vorher einfach nach vorn gerichtet war, schnappte zu mir herunter. Scheinbar wollte er Blickkontakt aufbauen, ich hingegen vermied diesen jetzt um jeden Preis. Es war nämlich genau die Frage, welche ich mir jetzt schon seit ein paar Wochen stellte.

„Ich bin doch total kaputt. Ich heule ständig rum, blocke ab und habe dazu nichtmal irgendwas hübsches an mir. Warum genau also ich? Warum liebst du genau mich?", sprach ich weiter, während ich meine Beine anzog. Es verlangte mir ziemlich viel Mut ab, diese Worte zu sprechen, doch umso gespannter war ich auf seine Antwort.

„Einfach deine Art.", sagte Lance, wobei ich das Lächeln aus seiner Stimme heraushören konnte, ohne das ich überhaupt zu ihm sehen musste. Verwirrt blickte ich zu ihm hoch. Was meinte er mit einfach deine Art ? „Naja, wie soll ich das den erklären?", fragte er, wobei er sich im Nacken kratzte und in sich hinein lächelte. Kurz schien Lance zu überlegen, ehe er weitersprach. „Zum Beispiel wie du mich ansiehst. Deine Augen fangen dann immer an zu funkeln. Oder wenn ich dich zum Lächeln bringen kann. Du hast echt keine Ahnung, was das für mich bedeutet. Ach ja, auch wenn du dich nicht traust zu mir hochzuschauen... das ist verdammt süß. Oder auch, wenn du mit deiner Kamera Bilder aufnimmst. Du siehst dabei so verdammt konzentriert und professionell aus, dass ich am liebsten von dir ein Bild machen würde.", beendete er seine Aufzählung, während er starr auf einen Punkt gestarrt und gelächelt hatte.

Letzten Samstag überkamen mich wieder meine Selbstzweifel. Als ich beim Zähneputzen in den Spiegel gesehen habe, wurde mir wieder klar, was ich überhaupt für ein Mensch war. Ich war nicht eine glückliche Prinzessin, welche ihren Märchenprinz gefunden hatte, sondern Melissa. Die kaputte Melissa die ich schon immer war. Doch Lance schien etwas in mir zu sehen, was ich vielleicht nicht sehen konnte.

Ich hoffte nur, dass es so blieb.

Strange Neighbour Where stories live. Discover now