𝐎𝐧𝐞

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Meine Fingerspitzen erhaschten etwas von der Sonne, die bis kurz vor die Gitterstäbe schien. Die Sonne erreichte selten Orte, die ich berühren konnte. Umso mehr genoss ich diesen ruhigen Moment. Ich streckte mich noch mehr und drückte meinen Kopf geradezu bettelnd gegen die Stäbe. Durch den kurzen Augenblick der Stille, bemerkte ich das leichte Beben des Bodens später als gewöhnlich.

Erst als die dazugehörigen Beine in mein Sichtfeld traten, zog ich meinen Arm zurück und sprang von der steinigen Ablage, welche mir als Bett diente. Meine nackten Füße schlichen und sprangen zugleich über den Boden und versuchten mich in den sichersten Bereich meiner kleinen Zelle zutragen. Gerade rechtzeitig, als ich schon die ekelhaften Stimmen meiner Freizeitpeiniger hörte, rutschte ich an der Mauer hinab und umfasste schützend meinen Kopf mit meinen Armen.

„Hey, Prinzessin." hörte ich sie auch schon rufen. So nannten sie mich gerne. Vermutlich war der Witz dabei, dass ich nicht nur feminine Gesichtszüge besaß, sondern mich wohl auch so verhielt. Wie auch immer, über den Witz habe ich eh noch nie gelacht.

„Versteckst du dich mal wieder?" Lachen, lauter als es eigentlich zu hören war, halte durch meine Ohren. „Ja! Zeig dich oder bist du so unmännlich?!" Diese Stimme klang deutlich jünger, wahrscheinlich der Sohn eines Bediensteten und ebenfalls schon im Dienst, als Stahlbursche oder so. Der Gedanke zischte durch mein Gehirn und erfüllte mein Herz mit einer kurzen Welle aus Frust. Sicher war er einer der kleinen Jungen, denen ich früher etwas Gold für ihre Familien aus der Schatzkammer gestohlen hatte.

„Neben dir sieht sogar meine kleine Schwester männlicher aus!" Wieder eine neue und doch oft gehörte Stimme. „Sicher ist sie auch stärker als der da. Seht euch doch nur seine schwächlichen Arme an." Ebenfalls ein Junge. Bis auf meinen Bruder, der bisher kein Wort von sich gegeben hatte, können alle nicht älter sein als zehn. Ich erkannte lediglich ihre Stiefel, doch ich musste ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er da war. Seit dem ich zurückdenken konnte, war er immer da. Sobald sich der Himmel verdunkelte und sich die Wolken mit Tränen füllten, dann war er da. Immer dann tauchte er auf, mein großer Bruder.
Und all diese Besitzer dieser winzigen Stiefel, die sich fast täglich vor meinen kleinen Fenster auftummelten, befanden sich unter seinem Einfluss.
„Los Kids, holt euch den größten Stein, den ihr finden könnt. Wir machen einen Wettbewerb." Ein Muskel zuckte in meinem Arm, ansonsten harrte ich in dieser Position aus. Ich war nervös. Jedoch nicht vor dem was mir bevorstand, sondern vor diesen wenigen Sekunden, in denen ich mit dem Anführer der kleinen Bande allein war. Dem Menschen, der sich so liebevoll meinen Bruder betitelt.

Er hatte diese Eigenschaft, die ihn erlaubt jeden so zu manipulieren, wie er es mochte. Er beherrschte sie lange, bevor ich auch nur Stehen konnte. Natürlich bekam ich diese Fähigkeit oft genug zu spüren. Jedes Mal wenn er mich soweit hatte, mich alles glauben zu lassen, schubste er mich und ich fiel von einer unsichtbaren Klippe. Die letzte Klippe endete in einer Gefängniszelle, mit optimal fehlender Bewegungsfreiheit und einem perfekten Blick auf die Füße der arbeitenden Menschen im Innenhof. Jeder konnte jederzeit zu mir reinsehen, damit ich auch niemals aus den Augen des Volkes verschwand: Als das Abscheu, das man mich nannte.

„Bruder, ist dir kalt? Es ist erst der Beginn des Frühlings." Stille. „Du kannst es mir sagen, dann verlange ich nach warmen Sachen und einer Decke für dich." Ich antworte wieder nicht. Ich wollte etwas sagen, meinen Mund öffnen und ihm entgegenschreien, wie der Hass täglich meine Galle hinauf-schritt, wenn ich nur an ihn dachte. Doch ich tat es nicht. Das Leben in einer Zelle war schon bescheiden genug, da hatte ich ehr weniger Lust auch noch nackt hier rumzusitzen.

„Komm schon Bruder! Du weißt doch, dass es nicht meine Schuld war, wie du hier gelandet bist. Ich war nur ehrlich zu Vater. Ich habe das richtige getan! Ich tat es doch für dich. Ich weiß, das mein keiner Bruder nichts dafür kann, ein Monster zu sein. Es ist nun mal deine Gestallt."
Ich hörte die falsche Sanftheit quasi aus seiner Stimme qualmen. Immerzu hatte ich mich gefragt, ob er sich wirklich für so gut hielt oder einfach nur schauspielerte. Unwichtig, solange Menschen ihm Glauben schenkten.

𝐅𝐨𝐮𝐫 𝐒𝐲𝐥𝐥𝐚𝐛𝐥𝐞𝐬 (𝖳𝖺𝖾𝗄𝗈𝗈𝗄)Where stories live. Discover now