𝐓𝐰𝐞𝐧𝐭𝐲 𝐟𝐨𝐮𝐫

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Sanft schaukelten die Wellen das Schiff durch die Nacht. Die Sterne glitzerten und schauten sehnsüchtig auf mich herab. Ich glaubte für eine Sekunde, ich könnte sie dem Himmel stehlen. Mein eigenes Lächeln betrauerte mich. Dem Himmel stahl man nicht die Sterne, sonst stahl er dir dein Leben.

Das hatte meine Mutter immer gesagt. Zumindest ihrem Tagebuch nach. Das einzige Buch, das nach all den Jahren immer noch in meinem Kopf rum-kreiste.
In den Himmel gehörten die Sterne. Sie seien unsere Wegweiser, unser Wissen, das uns erleuchtet, wenn wir uns selbst verloren hatten. Denn die Bewohner dieser Sterne sind die Seelen unserer Vorfahren. Unsere Wächter, die uns weder verurteilten, noch rügten. Sie waren einfach existent. Einfach nur da, um uns das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein. Du kannst nicht versuchen, sie dem Himmel zu stehlen. Du kannst nicht versuchen, die Seelen dir hörig zu machen. Denn sie gehörten niemanden.

Würdest du sie einfangen, würden ihre Lichter brechen, wie die Flügel eines Adlers, der in die Hände der Menschen fiel.
Meine Augen schlossen sich. Verriegelten die Tür zur Aussenwelt, sodass ich leidlich den Wind meine Haut küssen fühlte, spürte wie das Wasser den Boden uneben machte und das Feuer meines Verstandes zu straucheln anfing. Meine Sinne richteten sich nach dieser Erinnerung. Nach diesen Worten, die ich mir gesprochen vorstellte, doch die diese Erde nie erblicken würden. Nie aus ihrem Mund, denn sie war ein Stern. Fortgetragen, bevor ich die Möglichkeit hatte, ihr ein Lächeln zu schenken.

Mein Gesicht wandte sich der Luft zu, während ich mich darauf konzentrierte, ihre Stimme gedanklich nachzuahmen. So wie ich es immer getan hatte. Ich hörte ihre Worte, die Teil meines Gedächtnisses waren. Sätze, einer Stimme, die ich nie vernommen, nie zwischen den Strömen des Windes verfließen sehen hatte. Aber sie sprach zu mir, so laut und klar, als bestände meine Kindheit nur aus ihr. Ihr - ihrer Stimme. Meiner Mutter.
Taehyung, flüsterte sie. Versuch nicht, sie zu stehlen. Die Sterne. Versuch nicht, den Himmel sein Eigentum zu stehlen, denn sie gehören dir nicht. Der Himmel ist ihr Wächter, auch wenn jeder einzelne die Freiheit der Unabhängigkeit in sich trägt. Er wird sie beschützen, wie ich dich beschützen werde.

Kurz stolperte ich, schluckte. Dann blendete ich alles erneut aus.
Die Menschen sind gierig. Sie wollen alles und nehmen sich das, was sie wollen. Ihr Schatten beugte sich weiter zu mir vor. Sie war ihre eigene Sonne zu ihrem Schatten, zu dem Dunklen, das ich auf meiner Haut zu spüren meinte. Als ich drüber strich, verblasste diese Vorstellung. Versprich mir, versprich mir mein geliebter Taehyung, nicht so wie sie zu sein. Versprich mir, nie nach den Sternen zu greifen, selbst dann, wenn es so aussieht, als gäbe es keinen anderen Weg. Versprich mir das, Taehyung.

Ihre Worte in meinem Kopf erschufen ein Bild. Eine Leinwand, bestehend aus meinem inneren Ort, die eine wunderschöne Frau auf sich trug. Ihre Locken spiegelten ihr Lächeln wieder, das aussah, als wollte es von ihrem Gesicht fliegen und sich auf meine Lippen legen. Ich sah sie so genau vor mir, als wäre sie eine Narbe in meinen Erinnerungen. Sie wirkte so echt. So unendlich realistisch, obwohl meine Augen ihre nie betrachtet hatten, obwohl ihre Lippen meine Wange nie trafen, obwohl meine Ohren nie ihr Lachen wahrnehmen durften.
Reißerisch öffneten sich meine Augen. Sie suchten den Himmel ab. Nach ihr. Nach einem Abbild einer toten Mutter. Meiner toten Mutter, die ich persönlich zum Stern gemacht hatte. Trotz ihrer Worte, streckten sich meine Finger aus und griffen nach dem Licht des nächtigen Himmels. Vergeblich suchte ich nach dem einzigen Stern, der für mich zuständig war. Nach dem einzigen, dem ich meine Seele schenken würde.
Ich griff ins Nichts.

Es war, wie sie sagte: Greife niemals nach den Sternen. Sie wollen nicht gefangen werden, denn sie lieben ihre Freiheit. Stiehl sie ihnen nicht, Taehyung. Stiehl ihnen nicht ihr Glück, nur weil du deins verloren haben magst.

„Was machst du da?"

Meine Bemühungen gefroren zu Stein, während mein Hals sich beeilte, meinen Kopf in die andere Richtung zu drehen. Auf der anderen Seite lehnte Jungkook gegen die Tür zum Innenbereich. Sein Kopf lag schief in der Luft, als seine Augen versuchten, den Wind von sich fern zu halten. Automatisch verwischten sich die Gedanken an eine nicht existierende Erinnerung und machten etwas anderem Platz. Etwas viel realeren.
Er lächelte. Es war ein kleines Lächeln, eins dieser seltenen, die keinen Hohn in sich trugen. Keinerlei hinterlistiger Gedanken verbargen. Es war eins dieser Mundbewegungen, die seine Edelscheine zum Strahlen brachte.

𝐅𝐨𝐮𝐫 𝐒𝐲𝐥𝐥𝐚𝐛𝐥𝐞𝐬 (𝖳𝖺𝖾𝗄𝗈𝗈𝗄)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt