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Ich nahm an meinem Schreibtisch Platz und holte den Collegeblock und einen schwarzen Stift aus einer der Schubladen heraus. Dann fing ich an zu schreiben.

Liebe Familie, liebe Freunde und lieber Charles,
ich schreibe diesen Brief, um Abschied zu nehmen. Abschied von euch allen, die mich die letzten Monate und Jahre begleitet haben. Ich bin unsagbar glücklich, mit so vielen wunderbaren und einzigartigen Menschen gelebt haben zu dürfen. Ihr habt mich so oft zum Lachen gebracht und habt mich ich selbst sein lassen. Ich bin euch für die unzähligen Erlebnisse dankbar und hätte mir keine besseren Menschen an meiner Seite wünschen können.
Da du, lieber Leser dieses Briefes, gerade diese Zeilen liest, wirst du bereits wissen, dass ich tot bin. Bevor du die Schuld bei dir suchst, lass mich dir erklären, wie es dazu kam.
Vor einigen Wochen ist etwas passiert, was meine Psyche von einem unfassbaren Hoch ins Tief katapultiert hat. Von der einen Sekunde auf die andere, verlor alles seine Farbe und färbte sich grau. Das, was mir bis eben noch greifbar vorkam, verschwand vor meinen Augen. Dann musste mein adoptierter Hund, Elmo, diese Erde viel zu früh verlassen. Mein Herz blutet immer noch, da nichts dieses Loch in mir schließen konnte. Aber auch andere Dinge liefen auf einmal nicht mehr gut. Ich verlor mich wieder in meiner Essstörung, war aber gut darin, es zu vertuschen. Ich fing wieder an mich zu hassen, so sehr, dass ich heute entschied, zu gehen. Ich weiß, dass du dich jetzt fragst, warum ich mit niemandem geredet habe oder mir professionelle Hilfe gesucht habe. Es gibt eine einfache Erklärung. Ich wusste, dass ich, sobald ich jemandem davon erzähle, diesem Jemand ungewollt eine Last auf die Schultern lege und ganz langsam mit mir ins Verderben reiße. Das verdient keiner von euch lieben Menschen. Ich will nicht, dass sich irgendeiner von euch Vorwürfe macht, an meinem Tod Schuld zu tragen. Keiner hätte mir helfen können. Ich selbst war die einzige Person, die die Dinge anders hätte lenken können. Aber mir fehlte die Kraft. Ich war bereits am Boden, bevor ich es realisieren konnte.
Abschließend will ich noch loswerden, dass ich mir von euch wünsche, dass ihr euer Leben mit voller Freude und Erfüllung weiterlebt. Ihr braucht mich nicht zum Leben. Bitte weint nicht, sondern lächelt über all die schönen Dinge, die uns für immer verbinden.
Zum Schluss will ich ein paar extra Worte an Charles, die Person, der ich mein Herz geschenkt habe, richten. Lieber Charles Marc Hervé Perceval Leclerc, würde es Wörter geben, die beschreiben könnten, was ich mit dir gefühlt habe, hoffe ich du verzeihst mir, denn ich kenne sie nicht. Du hast mein Leben innerhalb weniger Augenblicke zu einem besseren gemacht. Du hast Licht ins Dunkel gebracht, mir einen Weg gewiesen, wo ich keinen sah. Und ganz unbewusst, hast du Wunden geheilt, die du nicht verursacht hast. Ich hätte mir die Zeit mit dir nicht besser erträumen können. Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Für alle die Dinge, die du getan hast, bin ich dir unendlich dankbar.
Es tut mir leid, wenn ich dich mit meinen Problemen verletzt oder belastet habe. Ich wünschte ich wäre nicht so kompliziert gewesen. Gewiss verdienst du etwas Besseres. Fakt ist jedoch, dass ich dich bis ans Ende geliebt habe. Ich habe noch nie einem Menschen so vertraut wie dir, verstehst du? Du bist etwas Besonderes. Danke, für die letzten fünf Monate, ohne dich hätte ich sie nicht erleben dürfen. Ich liebe dich.
Und nun, ein letzter herzlicher Gruß von mir. In ewiger Liebe, Célina

Eine Träne tropfe auf das Blatt Papier und vermischte sich mit der Tinte. ‚Es ist besser so, Célina. Du machst alles richtig.', redete meine innere Stimme gegen meinen Schmerz an. Ich riss das Papier mit meinem Abschiedsbrief aus dem Block und faltete es zusammen. Aus der Schublade holte ich einen weißen Umschlag heraus und steckte den Brief vorsichtig hinein. Mit der Aufschrift „Alle", legte ich ihn auf mein Kopfkissen und betrachtete ihn für ein paar zittrige Atemzüge. Die Gedanken in mir waren so wirr zusammengepfercht, dass ich sie kaum sortieren konnte. Ich musste spazieren gehen, frische Luft schnappen, bevor ich es tue. Ich schnappte mir meinen Mantel, schlupfte in meine Schuhe und trat ins kalte Treppenhaus. Da es kurz vor fünf Uhr morgens war, wusste ich, dass mir mit gewisser Wahrscheinlichkeit keine Menschen über den Weg laufen würden. Trotzdem nahm ich den Weg durch eine kleine Gasse, um Richtung Promenade zu kommen. Diese war menschenleer. Mit langsamen Schritten bewegte ich mich vorwärts, bis ich einen Strand erreichte. Im kühlen Sand ließ ich mich nieder und verfolgte den Wellengang des Meeres mit meinen Augen. Er ähnelte meiner Gedankenwelt. Wild und erdrückend. Nach all den Erlebnissen der letzten Wochen weiß ich, dass der Tod die einzig richtige Entscheidung ist. Es mag für andere vielleicht egoistisch oder schwach wirken, aber für mich ist dies der letzte Weg, auf dem noch Licht brennt. Nein, ich will nicht sterben, kein Depressiver will das. Ich will nur diesem Schmerz entkommen, diesen Dämonen, die mich Tag für Tag leiden lassen. Auf einmal war es nicht mehr schlimm, Gründe finden zu gehen, sondern keine, um zu bleiben. Mir bleibt hier nur Schmerz. Ich habe keine Freude mehr an diesem Leben. Ich kann nicht mehr. Egal wie sehr ich jetzt noch wollen würde, mein Körper, mein Herz und meine Seele sind am Ende. Es ist ein einziger Gefallen, den ich mir jetzt noch machen kann. Ich hatte mir nie gewünscht, so zu enden. Ich wollte meine Mutter stolz machen, groß werden und erfolgreich sein. Aber meine sprießende Vorstellung vom Erwachsenwerden, wurde mir genommen, bevor ich überhaupt gelernt habe, auf mich selbst aufzupassen. Es ging alles zu schnell und auf einmal stand ich da, ohne all das, was ich mir für die Zukunft erträumt hatte. Wenn ich so darüber nachdenke, tut mir das heute weh. Ich war jung. Ich hätte ein Recht darauf gehabt, diese Welt mit voller Energie zu erkunden. Aber ich bin nicht mehr bereit dafür. Ich bin müde. Die Melodie meines Lebens neigt sich dem Ende zu.

Tränen tropften vor mir in den Sand. Ich sollte gehen. Auf langsamen Sohlen machte ich mich auf den Heimweg. Ich nahm jedoch eine längere Route, um von diesem Leben gänzlich loszulassen.

Es war kurz nach acht morgens, als ich meine Wohnungstür hinter mir zuzog und Schuhe und Mantel von mir abstreifte. Ich legte mein Handy auf den Schreibtisch in meinem Zimmer. Vorher las ich noch die Nachricht von Charles, dass er vor einigen Stunden sicher in Frankreich gelandet ist.
Ich stakste zum Badezimmer und schloss hinter mir ab. Aus dem Schrank neben dem Waschbecken holte ich eine Packung Schlaftabletten heraus. Zuerst nahm ich nur eine, dann zwei und am Ende ganz viele Tabletten und trank sie mit dem Wasserhahn herunter. Es vergingen Minuten. „Du machst alles richtig.", wiederholte ich mit bebender Stimme die Worte meiner inneren Stimme. Sie musste Recht haben.
Langsam spürte ich den Schwindel hinter meiner Stirn tanzen, dann verlor ich die Orientierung. Ich musste mich am Waschbecken festhalten, um nicht vom Klodeckel zu fallen. Die Übelkeit ergriff mich, doch gleichzeitig wurde ich mit einem Mal unfassbar müde. Meine Sicht verschwamm vor mir. Plötzlich fühlte ich den eisigen Boden unter mir und einen stechenden Schmerz in meinem Kopf. Doch ich konnte längst nicht mehr einordnen, was passiert war. Meine Lider wurden schwer. Bald war der Schmerz in meinem ganzen Körper egal. Ich sah, wie meine Sicht kleiner wurde, unbedeutender, dann wurde es schwarz. Alles, was blieb war diese Dunkelheit. Ich fühlte nichts. Kein Schmerz, weder psychisch noch physisch. Da war zum ersten Mal seit Monaten das, was ich mir so gewünscht habe. Frieden. Ich war frei von allem, was mich tyrannisiert hatte. Ich durfte endlich ausatmen.

Melody of death | Charles Leclerc FFМесто, где живут истории. Откройте их для себя