XX | Geisterjunge

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Ich starre ihn ungläubig an. James ist zwar auch ziemlich jung- gerade Mal einundzwanzig ist er geworden- aber so einen jungen Geist habe ich noch nie gesehen. Er ist noch so unfassbar kindlich.  Niedliche Pausbäckchen, Stupsnäschen und kleine Finger. Was kann diesem Kind bloß zugestoßen sein?

„Sieh mal!" Aufgeregt springt er vor dem Bild auf und ab. „Das ist mein Daddy!" Er deutet auf den ältesten der Familie.

„Ach wirklich?" Ich rappele mich etwas auf und krieche auf den Knien näher zum Bild. „Wie heißt er denn?"

Henry sieht mich erstaunt an. „Na Dad natürlich!"

Na klar. Als ob ein so kleines Kind den Vornamen seiner Eltern kennt. „Und das da", aufgeregt deutet er auf den anderen jungen Mann auf dem Bild, „Das ist mein Onkel Malachai! Immer wenn er hier war, haben wir fangen gespielt! Und mit Tante Catleen habe ich immer gebacken. Aber die beiden waren schon lange nicht mehr hier." Er schaut traurig auf seine Füße. Er tut mir so unglaublich leid. Bestimmt weiß er gar nicht, was hier abgeht. Vorsichtig strecke ich die Hand aus und lege sie dem Geisterjungen auf die Schulter.

Einen Geist zu berühren ist komisch. Das ist mir aufgefallen, als ich James zum ersten Mal die Hand gegeben habe. Sie sind zwar materiell und fest, aber theoretisch könnte ich auch durch sie hindurch fassen. Wie dieser Stecksand, in den man künstliche Blumen steckt. Er ist fest, aber er gibt auch nach.

Vergnügt grinst Henry mich an. Er hat ein Zahnlückenlächeln. Einer seiner oberen Schneidezähne fehlt. Lächelnd streiche ich ihm über die blonden Locken. Er ist so niedlich. Wer könnte ihm denn etwas angetan haben? Denn anders als James, der an einer Krankheit gestorben ist und irgendwie immer tiefe Augenringe und rote Adern im Auge hat und kränklich Blass ist, sieht er total normal aus. Irgendetwas muss ihm passiert sein. Aber vielleicht war es ja auch nur ein Unfall.

„Aber jetzt bist du ja da und kannst alle wieder her holen!" Lacht er. Ich erstarre. Alle wieder her holen? Aber warum denn? Ich dachte, weil Elijah aus so einer alten Familie kommt, dass Familie großgeschrieben wird. Wie kann es sein das sie dann nicht kommen?

„Naja", ich streiche ihm eine Locke aus der Stirn, „Es wird schon seine Gründe haben, dass sie nicht mehr her kommen." „Die Gründe sind dumm!" Bockig lässt Henry sich auf den Boden vor mir plumpsen und beginnt damit mit seinen Schuhen zu spielen. „Erwachsene sind komisch", mit gerunzelter Stirn mustert er mich, „Sie machen andere verantwortlich für etwas, wofür sie gar nichts können. Sie lachen wenn sie eigentlich weinen wollen und sind sauer wegen Dingen die sie nicht mehr ändern können."

Ich nicke. „Weißt du, manchmal passieren schreckliche Dinge und man kann nichts daran ändern. Aber man ist so wütend, dass man jemanden dafür verantwortlich machen muss."

Henry reibt sich die Augen und blinzelt mich an. „Hast du das schon einmal gemacht? Jemandem die Schuld an etwas gegeben der dafür nichts kann?"

Ich räuspere mich nervös. Wird das hier jetzt ein tiefgründiges Gespräch mit einem kleinem Geisterjungen? „Ja", seufze ich, strecke meine eingeschlafenen Beine aus und ziehe das Ei zu mir. Ich habe das Gefühl das es unter meinen Fingern wärmer wird.

Henry öffnet und schließt seine Hände. Verwirrt beobachte ich ihn dabei. Was macht er da? Beruhigt er sich damit? „Warum?" Murmelt er mit seinem dünnen Stimmchen. Ich schlucke.

„Als ich noch klein war, ist meine Mutter verschwunden. Ich war da erst sieben. Ich habe noch einen kleinen Bruder, er ist zwei Jahre jünger als ich. Ich war sehr wütend auf sie. Hab sie dafür verantwortlich gemacht, dass sie gegangen ist. Aber jetzt erfahre ich das alles einen guten Grund hatte. Darum fühle ich mich jetzt auch schlecht weil-" „Du bist kein schlechter Mensch." Empört sich Henry. Ich nicke leicht. Henry rappelt sich auf und kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu.

Time Travelling | Broken SoulsWhere stories live. Discover now