So nah am Abgrund ... - Teil 1

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Long ago it came to me
and ever since that day
infected with its rage
but it ends today.

(Within Temptation – It's the fear)

Gedankenverloren beobachtete Hermine, wie das Wasser durch den Filter lief. Kaffeepulver blieb an den Rändern haften, zusammen mit ein bisschen Schaum, der sich gebildet hatte. Sie neigte den Kopf und beobachtete es fasziniert.

Obwohl sie die letzte Nacht wach hatte verbringen wollen, war sie irgendwann eingeschlafen. Aber sie hatte nicht mal annähernd lange genug geschlafen, um ausgeschlafen zu sein. Ganz im Gegenteil. Es war fünf Uhr morgens und Severus hatte sie vor einer halben Stunde geweckt, damit sie sich in Ruhe frisch machen konnten, bevor sie nach Hogwarts zurückkehrten. Und frisch machen beinhaltete für Severus offensichtlich Kaffee.

Der Geruch erinnerte sie an zu Hause, an ihren Vater und daran, dass ihre Eltern sich seit ihrem Besuch kurz nach Weihnachten noch nicht wieder bei ihr gemeldet hatten. Was, wenn es nie dazu kommen würde, dass sie ihnen Severus vorstellte? Sie ahnte, dass es schwierig werden würde zwischen diesen beiden Männern in ihrem Leben, aber bei der Vorstellung, dass sie diesen Streit (zu dem es definitiv kommen würde) niemals würde miterleben können, schnürte sich ihr doch der Hals zu.

In diesem Moment erstarb das Geräusch der Dusche im oberen Stockwerk und sie blinzelte, goss heißes Wasser nach und setzte sich seufzend an den Tisch. Ihr Blick schweifte durch die kleine Küche, bis er schließlich an dem Fenster über der Spüle hängen blieb. Es war stockdunkel draußen und anscheinend bewölkt, denn sie konnte keine Sterne oder den Mond erkennen. Es war wie ein Blick ins Nichts.

Ihr Herz begann plötzlich schneller zu schlagen. Hermine holte tief Luft und presste ihre Finger gegen ihre Oberschenkel, schloss die Augen und schob die aufsteigende Panik aus ihrem Geist. Sie musste ruhig bleiben, nachher noch mehr als jetzt, aber wenn sie es jetzt schon nicht schaffte, wie sollte sie es dann später hinbekommen? Die Verantwortung, Severus lebend durch diesen Tag zu kriegen, lag zu einem großen Teil auf ihren Schultern. Er hatte Erinnerungen von sich löschen lassen für diesen Plan. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren! Sie musste das hinkriegen, irgendwie. Was für eine dämliche Idee, dass sie die Beatmung übernahm!

In diesem Moment legte Severus seine Hände auf ihre Schultern und sie fuhr heftig zusammen. „Severus", seufzte sie und presste sich eine Hand auf die Brust.

„Hör auf, dir Sorgen zu machen", sagte er mit dunkler Stimme, bevor er sie losließ und sich eine Tasse Kaffee eingoss, ihr mit hochgezogenen Augenbrauen auch eine anbot.

Sie schüttelte den Kopf. Kaffee war noch nie ihr Geschmack gewesen, sie mochte nicht mal den Geruch sonderlich gern. „Ich kann nicht aufhören, mir Sorgen zu machen", entgegnete sie und stützte den Kopf in die Hand, nachdem er sich gesetzt hatte. „Nicht heute."

Unter der Tischplatte griff er nach ihrer anderen Hand; seine war warm gegen ihre und ungewohnt weich vom Duschen. „Potter wird es schaffen."

„Und du?", fragte sie lautlos und etwas erstickt durch die Tränen, die ihren Brustkorb wie ein Korsett zuschnürten.

Severus zog eine Schulter hoch. „Wir werden sehen."

Sie zog ihre Hand aus seiner und schlug sie sich vor den Mund in der vagen Hoffnung, sich doch noch rechtzeitig wieder in den Griff zu bekommen, rechtzeitig bevor sie vollends zerfiel, aber die Angst war mächtiger und fegte sie einfach von den Füßen.

Er seufzte und rutschte mit seinem Stuhl ein Stück um den Tisch herum, bis er seinen Arm um sie legen und sie an sich ziehen konnte. Hermine schlang ihre um seinen Hals und klammerte sich an ihm fest, als könnte ihn das davon abhalten, später an diesem Tag zu sterben. Sie wusste, dass es unfair war, diesen Trost von ihm regelrecht zu fordern, denn wenn es ganz blöd lief, würde nicht sie diejenige sein, die sterben würde; sie sollte stark sein und ihm das Gefühl geben, dass sie aushalten würde, was auch immer passierte, und es für ihn und alle anderen tragen konnte. Dass sie so nah am Abgrund balancieren konnte, ohne die Nerven zu verlieren. Aber sie war nicht stark, nicht jetzt, nicht so sehr und sie verlor die Nerven und deswegen ließ sie die Tränen für ein paar Minuten gewinnen.

Inter Spem et Metum - Zwischen Hoffnung und FurchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt