42| unbekannt

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e s t e l l a

christmas kids- roar

Ich ließ mich tragen, schwebte nahezu durch die Luft und atmete tief und zittrig ein. Mein ganzer Körper stand unter Spannung, während ich meine Arme ausstreckte und den Kopf in den Nacken legte, die Augen fest geschlossen.

Diese war nur eine von vielen Hebefiguren des Stücks, die ich mit verschiedenen Partnern tanzte.

»Bravo! Spitz die Füße!«, rief Mr Díaz über die dröhnende klassische Musik hinweg und ich tat was er sagte. Alle anderen beschleunigten ihre Choreo, während ich noch immer in der Luft war und der Typ namens Nick mich sicher hielt.

Mit Schwung wurde ich wieder auf den Boden abgesetzt und vollendete den dramatischen Tanz auf Spitzen. Meine Endposition war auf dem Boden, was Winnies Zeichen war. Ihr Solo war phänomenal und ich konnte mir mein Lächeln vor Stolz nicht verkneifen.

Am Ende der Probe waren alle zufrieden- die Lehrer eingeschlossen. Mr Díaz verkniff sich sogar harsches Feedback und klatschte nur einmal in die Hände.

Jeder freute sich und auch die Leute, die hinter der Bühne arbeiteten, waren glücklich. Ich schlüpfte mit einem guten Gefühl in meinen Hoodie und schnürte mir in einem der roten Samtsitze im Publikum den Spitzenschuh auf.

Dabei achtete ich wohl nicht darauf, dass sich jemand näherte. Erst als die Person sich neben mich setzte, blickte ich verwundert auf. Mein Lehrer starrte für lange Sekunden auf die Bühne, bevor er  sagte:»Ich habe mit deinem Arzt gesprochen, Estella. Dein Fuß wird besser?«

»Äh, ja... Es wird besser...«, brachte ich stockend heraus. Dieser Mann hatte eine Ausstrahlung, bei der man einfach nicht nicht nervös sein konnte. Einige der großen Lichter wurden ausgeschaltet und Tänzer verließen die Bühne. Bald waren wir allein. 

»Das ist gut. Du tanzt nicht unter Schmerzen. Klar? Zumindest nicht, wenn ich hier der Leiter bin.«

Perplex nickte ich. Meine Finger waren noch immer am selben Schuh beschäftigt. »Mache ich nicht.«

Mr Díaz seufzte und wandte sich mir schließlich zu. »Estella, es ist nicht dein Fuß, wegen dem ich mit dir reden will.« Er sah mich bedeutsam an und sprach weiter:»Du willst ein Stipendium, richtig?«

Mein Herz pochte gegen meine Brust. Was wollte er nur? »Ja. Richtig.«, gab ich offen zu und fragte mich ernsthaft, woher er all das wusste.

»Du fragst dich vielleicht, woher ich all das weiß.«, sagte er, als hätte er soeben meine Gedanken gelesen. »Aber überraschenderweise steckte ich damals in einer ähnlichen Lage wie du. In Russland waren Stipendien für die renommierten Ballettschulen begehrt und nahezu unmöglich zu bekommen.«

Wie in Erinnerungen schwelgend, schweifte sein Blick ab. »Doch ich hatte das Glück, eine Möglichkeit dafür zu bekommen. Das war zu einem Zeitpunkt, als mein Körper vom vielen Tanzen schon kaputt war.«

Sein Blick traf mich. »Dir sollte bewusst sein, was so ein Stipendium mit sich bringt, Estella. Es ist eine große Chance, natürlich. Aber im Gegenzug zum studieren, wirst du tanzen müssen, bis du nicht mehr kannst. Und je nach Stipendium kann es dein Traum, oder aber Albtraum werden. Das muss dir einfach klar sein.«

Mein Atem stockte, als ich wusste, worauf er hinauswollte. Er versuchte, mir ein Stipendium auszureden.

»Ich habe viele meiner talentiertesten Schüler gesehen, die daran kaputt gegangen sind. Wortwörtlich zerbrochen. Sie wollten ursprünglich noch andere Dinge im Leben, als das Ballett. Und ich zähle dich zu einer dieser Menschen, die nicht nur tanzen wollen.«

»Deshalb sage ich dir das. Es gibt Möglichkeiten. Viele andere Möglichkeiten. Damit meine ich beispielsweise Universitäten, von denen ich höchstpersönlich weiß, wie sie ihre Tänzer behandeln. Und wenn du vielleicht selbst an einen Punkt kommst, an dem etwas anderes wichtiger als das Tanzen wird... Ich habe ein Büro neben dem Trainer der Leichtathleten. Es ist nur ein Angebot. Deine Entscheidung.«

Er stand auf und strich sich die makellose Anzugshose glatt. »Auch wenn man es nicht denken mag, kümmern mich die Schicksale meiner Tänzer. Ich sehe nicht dabei zu, wie jemand wie du, sich selber kaputt tanzt. Und das nur wegen einem Stipendium.«

Mr Díaz ging los, ohne irgendein Wort von mir zu erwarten. »Raum 432. Das ist mein Büro.« Damit war er gegangen und hatte mich sprachlos zurückgelassen.

Ich war die letzte in der Umkleide, als ich dabei war mir die trocken geföhnten Haare durchzukämmen. Die Ballettsachen hatte ich nach der Dusche gegen Jeans und Pullover getauscht, weil gleich eine Doppelstunde Mathe Anstand.

Wenn ich es geschafft hatte die zu überleben, wollte ich einfach nur noch zu Cody. Ich wusste, er hatte spät abends noch eine Trainingseinheit, also würde ich vielleicht mal vorbeischauen.

In Gedanken war ich noch immer im Gespräch mit Mr Díaz, ging es wieder und wieder durch. Denn obwohl er es nicht wissen konnte, hatte er ja recht. Ich hatte ein Tanz- Stipendium angezweifelt. Mehrmals. Aber es war meine einzige Möglichkeit. Das dachte ich jedenfalls bisher.

Schnell und unordentlich stopfte ich alles in meine rosa Tasche, schnappte mir einen Müsliriegel und zog meine Jacke bis zur Nasenspitze zu.

Auf mein Handy blickend und am kauen ließ ich die Tür der Umkleide hinter mir zufallen und lief die Treppen gedankenverloren hinunter. Ich musste dringend auf andere Gedanken kommen.

Erst als ich nach draußen ging und die kalte Luft einatmete, fiel es mir auf: Zwischen all den Nachrichten meiner Freundinnen stand etwas ungewöhnliches: Eine Nummer ohne Profilbild.

Automatisch blieb ich stehen und öffnete mit klopfendem Herz den Chat. Eine längere Nachricht ploppte mir entgegen. Immer schneller flogen meine Augen über die Zeilen.

(Unbekannt) 16:03
Estella, an deiner Stelle wäre ich vorsichtiger, mit wem ich meine Zeit verbringe. Es gibt Geheimnisse, in die Mädchen wie du ihre Nase nicht reinstecken sollten. Du weißt, über welche Person ich spreche und genauso weißt du, wie das mit euch beiden laufen wird. Beende es, sei klug.

Mir wurde schlecht. Wer zum Teufel hatte mir sowas geschrieben? Sofort drückte ich auf blockieren und lief geschockt weiter. Adrenalin rauschte mir durchs Blut. Könnte das von Arvid kommen? War er durch irgendwen an meine Nummer gekommen und wollte mir nun einen Schreck einjagen? Wenn ja, dann war das verdammt unlustig.

Doch viel schlimmer, was meinte diese Person nur? Spielte sie Codyan an? Das das mit uns beiden zum scheitern verurteilt wäre? Und von was für Geheimnissen sprach dieser Unbekannte?

Aus irgendeinem Grund zog sich mein Herz zusammen und ich spürte so etwas wie ein Stechen. Sollte ich ihn darauf ansprechen? Gerade jetzt, wo es so gut lief? Vermutlich würde ich alles wieder zerstören.

Na toll. Ich wollte eben noch auf andere Gedanken kommen. Das hatte ich nun scheinbar erfolgreich geschafft.

The light you brought Where stories live. Discover now