60| letzter tanz

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e s t e l l a

happiness- taylor swift

Ein letztes Mal riss ich mich am nächsten Samstag, nur einen einzigen verfluchten Tag vor Silvester, nochmal zusammen.

Ein letztes Mal zog ich das beengende Kostüm an, frisierte mir die Haare streng zurück und trug Schichten für Schichten von der Schminke auf, die meine unterlaufenen Augen wie eine makellose Maske einfach perfekt überdeckte.

Im Spiegel blinzelte mich eine glückliche Estella an.

Eine mehr als nur glückliche Estella, wenn man bedachte, was mir Mr García vor einer Stunde mitteilte, als ich den backstage Bereich betrat und mich dabei schlechter als jemals zuvor fühlte. Er hatte es mir wohl angesehen und wollte mich aufmuntern.

Denn es kamen Angebote für mich rein, von Scouts. Wahrhaftige Stipendien- Deals von Unis, die absolut ernst gemeint waren. Ich hätte vor Freude weinen sollen. Es war schließlich das passiert, was ich immer gewollt hatte. Worauf ich immer unermüdlich hinausgearbeitet hatte. Doch als mein Lehrer es mir sagte, empfand ich nichts als eine emotionslose Leere. Ich nickte einfach und bedankte mich und das Gespräch war beendet.

Mittlerweile wusste ich nicht, ob ich das alles wollte. Ob ich für mein Leben Tanzen konnte, nur um endlich zu fühlen, wonach ich mich immer gesehnt hatte: Freiheit. Ja, ich würde endlich von meinen Eltern weggekommen und das wäre vermutlich großartig, aber in all der vergangenen Zeit war mir mehr als einmal klargeworden, was ich stattdessen dafür von mir geben musste.

Und ich wusste ja nicht einmal mehr, ob ich noch  bereit dazu war, diesen hohen Preis zu zahlen.

Ich bemalte meine Lippen scharlachrot. Wie immer drifteten meine Gedanken dabei weit, weit weg. Meistens zurück zu ihm. Zu dem zwanzig Minuten langen Video, zu seinen Worten, von denen ich immer noch nicht glauben konnte, dass sie wirklich echt waren.

Keine Ahnung, ob ich damit gerechnet hatte, dass Codyan am nächsten Tag einfach wieder zurück nach Skogsgård kommen würde und alles gut werden würde.

Ich hasste mich irgendwie dafür, dass ich mal wieder  auf diese naive Art versuchen musste, alles so umzuwenden, dass es positiv werden würde.

Dass es ein Happy End gab.

Denn die Realität sah so ganz sicher nicht aus. Wahrscheinlich hatte Cody in England mit dem Laufen angefangen, war an irgendeiner Schule, wo er sich wohl fühlte und baute sich dort sein neues Leben auf.

Ein Leben ohne den Druck seiner Eltern, ohne die Firma, ohne irgendwelche Vorschriften, die ihn gequält hatten. Wahrscheinlich war er gerade verdammt glücklich. Und das brachte mich zum Lächeln.

Das Video war bloß eine Entschuldigung an mich gewesen.

Dieser Gedanke brachte mich dazu, aufzustehen, mich verdammt nochmal zusammenreißen, meine Haltung anzunehmen und irgendwie an diesem Abend weiterzumachen.

Es würde nicht leicht werden und es würde seine Zeit kosten, bis ich wieder ich selbst sein würde, aber tief in mir wusste ich, dass es vielleicht möglich war.

Wenn er das konnte, konnte ich es auch schaffen.

Oder?

Winnie legte mir im selben Augenblick lächelnd eine Hand auf die Schulter und zwinkerte mir im Spiegel zu. »Siehst gut aus, Stella.«

»Danke, Win.« Ich ließ mich von ihr hochziehen.

»Unsere letzte Aufführung bricht an... Da werde ich glatt etwas emotional.« Auf eine theatralische Weise tat sie so, als würde sie sich eine Träne beiseite wischen und umarmte mich dann aus dem nichts.
Ich erwiderte es und legte mein Kinn auf ihrer Schulter ab. Wie von selbst entwich mir ein Seufzen.

»Ich weiß, es ist sehr schwer für dich. Es muss sich grausam anfühlen. Aber es ist wichtig nach vorne zu sehen, Süße.«, wisperte sie nach einigen Sekunden leise.

Es sind doch gerade mal zwei Wochen vergangen, wollte ich flüstern, aber ich schaffte es nicht.
Zwei Wochen. Vierzehn Tage. Das war irgendwie wenig, und doch so viel Zeit.

Zwei Wochen waren ein halber Monat. Zwei Wochen waren 336 Stunden. Und das kam mir dann doch gewaltig viel vor.

»Danke, Win. Ich versuche es.«, sagte ich bloß und dachte nicht mal darüber nach, ob ich gerade am lügen war. Ich umarmte sie stattdessen fester und genoss es einfach. Meine Eltern hätten mich nicht in den Arm genommen.

Mom riet mir bloß auf ihre stumpfe und verkorkste Weise, mir einen anderen Jungen zu suchen und Dad verlor nicht mal ein Wort darüber, als würde sich nicht alles in den Medien darum drehen.
Glatt so, als würde er sich für seine Tochter schämen. Ich wusste, insgeheim tat er genau das.

»Sehr gut.« Sie stupste mir in die Seite und gemeinsam gingen wir dann zu den anderen.

Ich duschte kalt, nachdem der Abend und somit die letzte Aufführung gelaufen war. Dann legte ich mich in mein frisch bezogenes Bett, griff nach meinem Becher Eis und schaltete Musik ein.

Bis Mitternacht hatte ich mit den anderen fröhlich gefeiert und mich dann leise zurückgezogen. Und so verbrachte ich den letzten richtigen Abend des Jahres im Bett, sah dem rieselnden Schnee zu, lauschte Gracie Abrams und aß das gefrorene Eis mit den Cookie Stücken, die ich so liebte.

Ab und zu griff ich unbewusst nach meinem Handy, nur um es jedes Mal ertappt fallen zu lassen. Irgendwie erwartete mein blödes Herz etwas.
Es erwartete, dass etwas passierte.
Irgendwas.

Ich wollte ihn abgrundtief hassen. Ich wollte böse auf ihn sein, ihn verfluchen und nie wieder an ihn denken.

Aber das ging nicht. Egal wie sehr mir alle in meinem Umfeld dazu rieten.

Codyan war für mich diese eine unersetzbare Person gewesen, die man einfach niemals wieder finden konnte. Ich glaube sogar, er war mein Seelenverwandter. Jedenfalls wenn es so etwas wirklich gab. Denn danach hatte es sich das mit uns angefühlt.

Ich sank tiefer in meine herrlich weichen Kissen und dachte nach. Das tat ich in letzter Zeit viel zu oft.

Ich dachte ernsthaft darüber nach, wie ich über das mit uns hinwegkommen konnte.

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