Die Welt von draußen

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Die ersten Tage, seit ich diesen warmen Ort verlassen hatte, nahm ich kaum wahr. Mein Alltag bestand aus einem ständigen Wechsel zwischen Schlafen und Fressen. Mein Vater verließ alle paar Stunden die Höhle und kam dann mit Nahrung wieder. Aber es war immer dasselbe Futter. Meine Eltern fraßen jeden Tag dieses anders riechende Zeug, würgten die überflüssigen Reste wieder hoch und gaben diese uns.

Mein Bruder ging mir immer wieder auf die Nerven. Er war sehr aufgedreht, energiegeladen und verspielt. Aber ich war der jüngere von uns und brauchte meine Ruhe.

Irgendwann, ich hatte seit ich auf der Welt war das große helle Licht am Himmel sieben mal gesehen, gingen meine Eltern nach draußen. Das taten sie häufiger und ich war das auch schon gewohnt, aber sie wollten das ich mit kam.

Nach draußen? Da, wo es mal so oft geflackert und gekracht hatte, als es dunkel war und ich zum ersten Mal sehen konnte? Dorthin?
Nein, auf gar keinen Fall! Da ging ich nicht hin! Ich musste schon diesen warmen Ort verlassen, doch jetzt verließ ich nicht die Höhle. Draußen war es bestimmt gefährlich. Was war, wenn es da wieder so leuchtete und krachte?

Plötzlich unterbrach mein Bruder meine Gedanken, denn er stürmte begeistert nach draußen und tobte herum.
Zögernd stellte ich meine Pfoten auf den Boden. Ich konnte erst seit kurzem laufen, aber das Aufstehen war immer noch sehr schwer. Sofort kam meine Mutter zu Hilfe und diente mir als Stütze. Endlich hatte ich es geschafft auf allen Pfoten zu stehen. Meine Beine zitterten zwar noch etwas, aber ich konnte stehen.

Mit Begleitung meiner Mutter wagte ich es. Zum aller ersten Mal setzte ich eine Pfote in die offene Welt. Das erste was ich wahrnahm, war ein komisches Kribbeln zwischen meinen kleinen Krallen. Ich blickte nach unten und sah seltsame spitze, grüne Dinger aus dem Boden ragen. Es gab so viele davon, dass der gesamte Boden grün erschien. Ich schnupperte an dem Zeug. Es roch so frisch und irgendwie auch wild. Es war garantiert ein anderer Geruch als dieses Zeug, dass ich immer fraß. Das hier roch nicht lecker. Aber es stank auch nicht.

Als ich bemerkte das mein Bruder sich überhaupt nicht für das grüne Zeug interessierte, tat ich es ihm nach.
Ich wollte gerade zu ihm gehen, als die grünen Dinger plötzlich pieksten. Sie kitzelten sogar auch etwas. Verwundert hob ich meine Pfote und sah, wie einige grüne Teile an meinen Schuppen klebten. Sie waren winzig, lang und spitz.

Amüsiert kam meine Mutter zu mir und leckte mir die Pfote sauber. Sie brummte, als wolle sie mir etwas sagte. Aber was? Ich konnte sie nicht verstehen. Würde ich sie jemals überhaupt verstehen können? Warum nicht, mein Bruder verstand sie doch auch. 

Endlich konnte ich mich irgendwie von der grünen Fläche entfernen und gelang zu meinem Bruder. Er saß vor einem riesigen Loch, welches mit etwas dunkelgrünem befüllt war. Dieses etwas schwappte leicht und reflektierte die Lichtstrahlen von dem riesigen Licht am Himmel.

Das Loch machte mir etwas Angst. War es lebendig?
Mein Bruder verhielt sich komisch. Na ja - er war schon immer komisch, aber diesmal bückte er sich, zuckte hin und wieder mit seiner Schwanzspitze, starrte gezielt auf das Loch, wartete einen Moment und sprang dann angriffslustig hinein. Es spritzte unwahrscheinlich und ich musste mich irgendwie schützen. Aber wie? Das grüne Zeug, das während es durch die Luft flog plötzlich nicht mehr grün sondern eher durchsichtig war, traf mich in Mengen.

Es war eisig kalt und so ... so nass! Aber es war eine andere Nässe als die, die es in diesem warmen Ort gab, eine andere Nässe als die Zunge meiner Mutter.
Es war viel kälter und stank auch etwas. Trotzdem konnte man es als eine Flüssigkeit bezeichnen.

Während ich mich vor der Nässe ekelte, sprang mein Bruder vergnügt in ihr herum. Oder nein - er jagte etwas. Aber was? Ich konnte sein Opfer nicht sehen. Es musste klein sein.
Auf einmal kam etwas aus der Flüssigkeit gesprungen. Es war klein, aber lang. Mein Bruder hob seine Pfote und schlug das Teil mit voller Wucht auf mich zu.

Was sollte das!? Ich quiekte erschrocken auf und flüchtete vor dem etwas.
Zappelnd lag es nun auf dem grünen Boden. Diese grünen Teilchen schienen ihn auch zu pieksen. Immer wieder zuckte das gejagte Opfer zusammen und starrte mit kugelrunden, grauen Augen in die Leere. Der Mund war winzig klein. Immer wieder öffnete und schloss er sich.

Jetzt erinnerte mich dieses Teil an etwas. Es sah wie das Futter meiner Eltern aus. Nur konnte es sich bewegen.

Stolz über den Triumph kletterte mein Bruder aus der Nässe und ging auf das Futter zu. Mit einem Hieb seiner ausgefahrenen Pfote schlug er auf das Opfer ein. Plötzlich rührte es sich nicht mehr. Still lag es auf dem grünen Zeug und starrte regungslos irgendwohin.

Sofort kam mein Vater zu meinem Bruder gerannt und schmiegte lobend seinen Kopf an den meines Bruders. Was auch immer er getan hatte, es war gut.

Wir erkundeten noch lange die Umgebung und ich sah viele Sachen zum ersten Mal. Zum einen große, weiße Flecken, weit über unseren Köpfen, und zum anderen riesige, lange, braune Dinger, welche aus dem grünen Zeug ragten.

Müde und erschöpft schlenderten wir wieder zurück zur Höhle. Als erstes legte ich mich auf meinen Schlafplatz und rollte mich zu einer Kugel zusammen. Mein Vater verließ wieder die Höhle, kam aber wenig später zurück. Er hatte Futter besorgt.

Als meine Mutter mir den Brei anbot, musste ich an die Beute meines Bruders denken. Das, was ich jeden Tag fraß, war ein Lebewesen! Es hatte vorher gelebt, so wie ich. Und jetzt? Lebte es immer noch? Nein, es ist zermalmt worden. Ich hatte keine Ahnung, das diese Pampe mal ein Lebewesen war. Ich dachte immer, es sei einfach Futter. Futter, das vorher nie gelebt hatte. Aber es hatte gelebt und das verdarb mir den Appetit.

Schadenfroh fraß mein Bruder den Brei auf. Vergnügt war er, obwohl er genau wusste, dass das ein Lebewesen war. Wie konnte er nur? Das hätte doch auch er sein können!

Es war brutal. Warum fraß man andere Leben auf? Die Welt war schrecklich. Wonach musste man sich denn richten? Fressen oder gefressen werden? Leben oder sterben? Warum war das so? Ich verstand es nicht und werde es wahrscheinlich auch nie verstehen.

Die Zeit verging. Insgesamt hatte ich vierzehn mal das große, helle Licht über uns gesehen. Mal versteckte es sich hinter weißen großen Flecken, welche manchmal am da oben waren, doch hauptsächlich sah man es als gelben, leuchtenen Kreis. Es war meistens so hell, dass man es nicht richtig sehen konnte. Es blendete gewaltig.

Ich vergaß die Erinnerungen an den alten warmen Ort, wo ich immer war. Er existierte nicht mehr und ich wusste überhaupt nicht mehr, wie es da war. Warm - ja - aber wie fühlte es sich an? Es war mir aber auch egal, denn jetzt war ich hier und hier würde ich wahrscheinlich auch bleiben.

Die Tage wurden für mich Stück für Stück immer länger. Ich musste nicht mehr so viel schlafen und konnte häufiger raus gehen. Obwohl ich stolz über meine kleine Weiterentwicklung war, war mein Bruder mir immer noch zwei Wochen voraus. Und ich würde ihn niemals einholen können.

Ich war jünger als mein Bruder - ja - aber ich war nicht dumm. Ich merkte, dass das Familienverhältnis komisch war. Mein Bruder bekam die volle Aufmerksamkeit von beiden Eltern. Er wurde von beiden geliebt, wie es ihm zustand. Doch ich hatte nur meine Mutter. Sie war die einzige, welche sich um mich sorgte. Mein Vater wiederum zeigte keinerlei Interesse. Er ignorierte mich, als sei ich Luft und ging mit mir um, als sei ich Dreck. Irgendwas stimmte da nicht.

Aber ich konnte es nicht hinterfragen, wie denn auch? Ich musste es einfach akzeptieren, auch wenn ich es nicht verstand.

Ohnezahns LebensgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt