Die Offenbarung

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"Verräter"
Das hatte mich getroffen.
Ich war verhasst unter den Drachen. Sie haben gesehen, dass ich die Seite gewechselt hatte. Aber hatte ich das wirklich?
War Hicks denn wirklich mein Freund? Hatte er mir das nicht eingebrockt? Wegen ihm war ich jetzt unbeliebt! Er hatte mir mein Leben zerstört! Jeder hasste mich...
Ich war ein Verräter...

•••

Eisiges Schweigen brach ein, als wir über der Wolkendecke segelten. Abgesehen von meinen Flügelschlägen war nur das verängstigte Atmen der Wikinger zu hören. Würden sie mich verraten?

"Hicks?", unterbrach Astrid das Schweigen heiser, "War das wirklich das Drachennest?" Mein Reiter antwortete nicht, vielleicht hatte er keine Kraft dazu.

"Was war das?", fragte er schließlich mit brüchiger Stimme.
"Was? Meinst du diesen riesigen Kopf im Vulkan?", wollte Astrid wissen.
"Alles, Astrid.", antwortete Hicks, "Ich meine alles. Was haben die Drachen für eine Mission? Warum haben sie unser Vieh in das Magma geworfen? Und dieser Schädel... Was hatte das zu bedeuten?" Ich lauschte dem Gespräch genau, es interessierte mich sehr.
"Verdammt, Hicks, das sind Sklaven! Die Drachen haben Angst! Sie werden gezwungen, dem Monster das Futter zu geben." Murmelnd verneinte Hicks ihre Vermutung: "Ach quatsch... Astrid, das sind richtige Drachen! Die haben ihren eigenen Kopf. Wenn ihnen etwas nicht passt, fliegen sie einfach davon, so einfach ist das."
"Tja, ich kenne einen Drachen, der nicht so einfach davon fliegen kann, wenn ihm etwas nicht passt!", feixte die Wikingerin und deutete mit ihrem Kinn auf meine Prothese.
"Ich bitte dich, fang jetzt nicht mit so einem Blödsinn an...", versuchte Hicks das Thema genervt zu beenden.

Ich legte meine Flügel leicht an und tauchte durch die Wolkendecke. Unter uns sahen wir das Wikingerdorf, nach wie vor ruhig. Ich glitt über die Baumwipfel hinweg, bis hin zu dem Talkessel.

Ich setzte gerade zur Landung an, als Astrid Hicks erneut widersprach: "Doch, doch, d-d-das leuchtet total ein! Das ist wie 'n riesiger Bienenstock. Die sind die Arbeiter und er ist ihre Königin! Er kontrolliert sie. Wir müssen zu deinem Vater!"
Sie hatte es auf dem Punkt gebracht. Dass ausgerechnet Astrid als erstes auf diese Vermutung kam, hätte ich nicht gedacht.
Mit einem großen Ausfallschritt landete ich neben dem Teich. Astrid war bereits vom Sattel gesprungen und wollte sich soeben auf den Weg machen, bis Hicks sie stürmisch unterbrach: "Nein! Nein! Nein, noch nicht! Die... würden Ohnezahn töten... Nein, Astrid, wir müssen das erstmal gründlich überdenken!"
Wie recht er doch hatte! Dankend sah ich ihn mit runden Pupillen an. Mein Leben stand auf dem Spiel. Schon wieder.

Und erst jetzt - als auch Hicks abgestiegen war - stellte ich wieder fest, wie schwer die zwei vorhin im Sattel waren. Ich schnaufte, erleichtert über die Entlastung. Hicks schnitt Astrid den Weg ab, er wollte sie dringend vom Gegenteil überzeugen.
Er nahm mich in Schutz.

Astrid warf mir einen schnellen Blick zu, bis sie sich wieder an Hicks wandte: "Ey man, wir haben gerade das Drachennest entdeckt, Hicks. Danach suchen die Wikinger, seit sie die Meere durchkreuzen! Und du willst das für dich behalten?" Hicks verfinsterte sein Gesicht, starrte den Boden an und kam langsam auf mich zu. Was sollte das werden? Wollte Astrid mich etwa verraten?

Dann setzte sie mit Entsetzen an: "Weil - weil du deinen Schmusedrachen schützen willst? Ist das dein Ernst?"
"Hey!", warf ich fauchend ein. Ich war nicht sein Schmusedrache, nur sein Freund! Das Verhalten der Wikingerin machte mich skeptisch. Auf welcher Seite war sie überhaupt?

"Ja.", antwortete Hicks selbstbewusst und sah ihr ernst in die Augen. Vertrauenswürdig schenkte ich meinem Reiter einen liebevollen Blick. Er hatte mich lieb. Er setzte sich für mich ein, ich war ihm wichtig. Das nannte man Freundschaft.

Doch so treu und rührend seine Reaktion auch war, machte ich kehrt und ging näher ans Ufer, um etwas zu trinken. Ich hatte einen wahnsinnigen Durst, die Hitze im Vulkan und überhaupt der lange Flug hatte mir viel Flüssigkeit geraubt. Ich war erschöpft.
Wir Drachen tranken in der Regel nur selten, dafür viel. Wasser in unseren Lungen könnte nämlich unsere Feuerkraft für einige Minuten entnehmen, womit wir teilweise wehrlos wären. Aber hier war ich sicher. Hicks war bei mir, es konnte mir nichts passieren. Ich vertraute ihm.

Ohnezahns LebensgeschichteWhere stories live. Discover now