Lebe wohl

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"Äh, we- weg?", stammelte ich sichtlich überfragt und sah verwirrt in die Leere. Wie kam sie denn jetzt darauf? Wir konnten nicht weg!
Wieder schluchzte sie: "Ich will weg, weil ich Angst habe."
"Wovor?", ich sah zu ihr runter, "Ist es etwa wegen Feuerschuppe?"

Feuerschuppe war der befreundete Riesenhafte Albtraum, den ich einst erwähnte. Seine Arroganz konnte uns ganz schön die Nerven rauben, so eingebildet war er. Und manchmal kam es dazu, dass er uns provozierte und ein schlechtes Licht auf uns warf. Natürlich konnte man das nicht als Freundschaft bezeichnen, trotzdem zeigte sich der rote Drache auch mal von seiner netten Seite, was ihn automatisch zu einem geselligen Kamerad machte.

"Der doch nicht!", schniefte meine Schwester und drehte ihr verweintes Gesicht zum Meer, "Es geht mir nur darum, dass ich nicht den Rest meines Lebens für ein verfressenes Monster arbeiten will, ohne eine gerechte Gegenleistung dafür zu bekommen." Fast hätte ich wegen ihrer Beschreibung gelacht, doch dies ließ ich schnell bleiben, als sie fortfuhr: "Tagein tagaus riskieren wir unser Leben, für eine solche Unnötigkeit, die ich nur schwer beschreiben kann. Zwei Jahre machen wir das schon, Salir. Zwei bescheuerte Jahre!"

Nun wurde sie laut und sah mich mit schmalen Pupillen an. In ihnen konnte ich all ihr Leid sehen, das sie die letzten zwei Jahre mit sich getragen hatte. Kaum wurde aus dem eisigen Blick zwei tränende Augen, ergänzte Feuerblüte heiser: "Ich kann das nicht mehr, Salir."

Wir behielten für einige, zum Sterben lange, Sekunden einen durchdringenden Blickkontakt, welcher scheinbar nicht aufhören wollte.

Mit einer kaum hörbaren, tonlosen Stimme beschloss sie: "Wir müssen hier weg. Sofort."
Völlig überfordert suchte ich nach den richtigen Worten, brauchte dafür allerdings mehrere Anläufe: "Äh - wie, wie stellst du dir das vor? Du weißt schon, dass wir nicht so einfach fliehen können. Die Königin wird uns immer überwachen, sei es, wenn sie uns gerade beobachtet, oder wenn andere Drachen uns kontrollieren sollen." Für einige Sekunden fehlte mir ein Argument, welches die Idee meiner Schwester entkräften könnte. Schließlich kam ich wieder zu Wort: "Niemals würde es die Königin zulassen, dass wir von hier die Flucht ergreifen. Niemals. Durch ihren nahezu hypnotisierenden Ruf würde sie uns wohl oder übel dazu zwingen, wieder zum Drachennest zurückzukehren. Und wenn sie nur den leisesten Verdacht hat, dass du von hier verschwinden wolltest, wird sie dich mit nur einem Happen verschlingen. Sie wird bei dir keine Gnade kennen. Bitte, du weißt doch genauso gut wie ich, dass es absolut dumm wäre, die Flucht zu ergreifen. Sehr dumm wäre das. Sie wird dich finden, sie wird dich qualvoll töten. Mir würde sie übrigens auch das Leben schwer machen, vergiss das nicht. Tu uns so einen unnötigen Blödsinn nicht an, Feuerblüte. Du weißt ganz genau, dass wir beide dafür teuer bezahlen müssen. Im schlimmsten, aber auch sichersten, Fall mit unserem Leben."

Meine Worte schienen an ihr abzuprallen. Immer noch fest entschlossen, knurrte sie: "Dann geh ich halt alleine!"
"Sei nicht so stur!", brüllte ich sie entsetzt an. So laut hatte ich sie noch nie angebrüllt. Ich war wohl zu weit gegangen, sie wird sich jetzt gleich verängstigt klein machen und mit Tränen in den Augen leise wimmern. So, wie sie es sonst immer tat, wenn sie Angst hatte.

"Bezeichne mich meinetwegen als stur. Ich nenne es Vernunft.", äußerte sie kahl, mit einem bösartigen Blick, den ich gar nicht von ihr kannte. Als sie wieder Luft holte, linderte sich ihre Mimik. Mit einem milden Blick verabschiedete sie sich: "Lebe wohl, Salir. Du warst ein liebevoller Bruder für mich gewesen." Mit diesen Worten sprang sie in die Höhe und katapultierte sich mit ihren Flügeln immer weiter in Richtung Wolken.

Keine Sekunde später preschte ich ihr hinterher.
"Feuerblüte!", schrie ich hysterisch, obwohl uns nur wenige Zentimeter voneinander trennten. Sie war schnell. Sehr schnell. Schneller als ich. Ihre Flügelschläge und Bewegungen waren so wild und hektisch, dass ich ihnen gar nicht folgen konnte.

Schließlich klatschte sie ihre Schwanzflosse direkt in mein Gesicht. Ich wusste nicht, ob es ihre Absicht war, aber ich hatte mich ab dem Zeitpunkt noch nie so gekränkt gefühlt.
Ich hatte Sterne gesehen, konnte mein getroffendes Auge nicht mehr öffnen, Tränen strömten über meine pochende Wange und ich ... stürzte ab.

Der Wind heulte schrill, als wolle er meine Schmerzen nachahmen. Ich erlitt eine harte Bruchlandung. Dennoch waren meine Sorgen um Feuerblüte größer, sodass ich drei Sekunden später wieder in der Luft war. Ich kläffte vor Schmerz, mein Gesicht pulsierte wegen der offenen Wunde, ich sah lauter Punkte vor meinen Augen.

"Stop...", erstickte ich, doch mein Wort hatte keine Kraft mehr. Ebenso wenig wie meine Flügelschläge. Wie leblos glitt ich wieder auf den Erdboden, mit rissigen Flügelhäuten, gestorbener Stimme und vergifteter Hoffnungslosigkeit. Mit einer unnatürlich großen Anstrengung hievte ich meinen Kopf in die Höhe und starrte ein immer größer werdenes Loch in den Himmel. Genau auf der Stelle, an der meine kleine Schwester, Feuerblüte, nur noch als kleiner, schwarzer Punkt erkennbar war.

"Weg...", hauchte ich mit einer ersterbenden Stimme und starrte entseelt den immer kleiner werdenden Punkt an. Bis er völlig verschwand.

Mit vom grellem Himmel geblendeten Augen winselte ich wirres Zeug. Dann wurde es zu einem Wimmern. Wenig später zu einem Schluchzen. Schlussendlich weinte ich drauf los. Vollkommen verzweifelt warf ich die bitteren Tränen von meinen Schuppen und japste ständig nach Luft. Sie war jetzt weg.
Wie konnte das passieren?

Ich wusste nicht, wie lange ich weinend an der Stelle noch stand. Vielleicht Minuten? Oder Stunden? Es fing nach einer halben Ewigkeit an zu regnen. Nein, es fing an zu hageln. Wie Giftpfeile schnellten die Hagelkörner auf mein klitschnasses Schuppenkleid herab. Es tat weh, so wie hunderte kleine Nägel. Aber der Schmerz, Feuerblüte einfach gehen zu lassen, war noch weitaus größer. Es war, als wenn einem das Herz förmlich rausgerissen wurde. So sehr schmerzte es.

Es prasselte schon minutenlang, bis ich ein Krächzen hinter mir wahr nahm. Aber ich achtete nicht drauf, sondern fixierte dauerhaft das tosende Meer, welches vom Hagel provoziert wurde und wie wild seine Wellen um sich schlug.

"Was ist passiert?", krähte eine mir vertraute Stimme schockiert, ehe der Erzeuger hastig neben mir landete. Ohne aufzuschauen erkannte ich, dass es Dorn war.

"Weg...", zitterte ich mit rauchiger Stimme, die zu zerbrechen drohte. Mehr konnte ich momentan nicht sagen. Nur dieses eine schlimme Wort.

Dorn wollte etwas sagen, zumindest holte sie Luft. Doch dann schien ein gewisser Gedanke sie davon abzuhalten. Wahrscheinlich ahnte sie es bereits.
"Wo ist sie?", erkundigte sie sich vorsichtig. Dabei sank sie einfühldam ihren Kopf auf meine Höhe.

"Weg.", nuschelte ich wieder, nur diesmal mit etwas mehr Klang in der Stimme.
"Aber wohin?", informierte sie sich genauer.
"Weg, verdammt!", fauchte ich nun völlig gereizt, "Feuerblüte ist weg, wird nie wieder kommen, sie ist weg! Für immer!" Jetzt ist mein innerer Damm gebrochen und gewährte meinen Überfluss von Tränen den Ausgang.

Ich flennte, ich bellte schon fast! Schluchzte meinen Kummer aus und Dorn... sie hörte einfach nur zu. Still saß sie neben mir, ihren warmen Blick auf mir ruhend und schenkte mir ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie lauschte meinen unvollständigen Sätzen und nickte ab und zu schweigend, als verstehe sie mich.

"Und jetzt...", beendete ich mein Gejaule, "Bin ich ganz allein."
"Du bist nicht allein.", tröstete mich meine Freundin und schmiegte ihren blauen Kopf an meinen. Der Hagel hatte bereits aufgehört und ließ nur trostlose Nässe zurück.

Ohne noch irgendetwas zu sagen kuschelten wir zwei zusammen, einfach nur aus Leidenschaft und Freundschaft. Ich wusste, dass auch Dorn eine schwere Vergangenheit hinter sich hatte. Wir beide waren in einer gewissen Art traumatisiert. Doch im Leben - und das hatte ich bereits gelernt - hieß es auch, bestimmte Sachen loszulassen und das hier und jetzt zu nutzen. Feuerblüte ist geflohen, einfach so. Ohne auf die möglichen Konsequenzen zu achten. Ob sie verfolgt und anschließend getötet wird, wusste ich nicht. Doch meines Wissens nach hatte noch kein Drache im gesamten Drachennest den Mut gehabt, zu flüchten. Denn jeder wusste, dass dies nur mit dem Tod bezahlt werden konnte.

Aber ich hatte noch Dorn an meiner Seite. Sie war eine gute Freundin und ich schätze, dass dieser Tag unsere Freundschaft nur noch mehr zusammenschweißen würde.

Ohnezahns LebensgeschichteWhere stories live. Discover now