Hicks und sein Zuhause

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"Es hat keinen Sinn!", schnaufte mein Reiter außer Atem, nachdem er ganze zwanzig Minuten lang versuchte, das Seil zu trennen, welches ihn am Sattel fesselte, "Wir müssen zur Schmiede und es dort abschneiden." Schmiede? Was war denn eine Schmiede? Dieses Wort kannte ich noch nicht, aber scheinbar würde ich es noch kennen lernen.

Wir setzten seinen Vorschlag in die Tat um und machten uns auf den Weg. Wohin es ging wusste ich nicht, das hatte er mir nicht gesagt. Aber es war ja auch nicht schlimm, schließlich würde mein Reiter mich steuern.

Erst als die Dunkelheit ansetzte und es Nacht wurde, erkannte ich unser Ziel. Es war das Menschendorf. Unter uns Drachen wohl auch als Drachenfriedhof bekannt.
"Glück gehabt!", atmete mein Reiter erleichtert auf, "Heute diesmal kein Drachenangriff." Ich zuckte aufmerksam mit einem Ohr. Stimmt ja, er wohnte doch in diesem Dorf. Fast jede Nacht hatten die Wikinger mit uns Drachen zu kämpfen gehabt. Nur heute schien wohl keine Schicht zu sein. Das kam auch hin und wieder mal vor, wenn die Drachen in der vorherigen Nacht ordentlich pfündig geworden sind und der Königin mehr als sonst immer mitbrachten.

Der Junge trat mit seinem linken Fuß in den Steigbügel und ein Klicken der Prothese war die Folge. Wir landeten neben einem Haus, das meine Schuppen zum Jucken brachte. Denn vorne am Dach hing der Kopf eines blauen Tödlichen Nadders. Der Drachenkopf erinnerte mich an Dorn, meine Freundin. Mein Blick blieb an der Dekoration hängen, denn ich vermisste Dorn. Wie es ihr wohl ging? Gelang es ihr zu fliehen? Am liebsten hätte ich meinen Reiter gefragt, was mit Dorn sei, doch dieser hatte sicherlich nicht die geringste Ahnung.

Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, denn wir wurden von einem grellem Licht beschienen! Aus Reflex wich ich einige Schritte zurück, weiter in die Dunkelheit. Dabei hätte ich fast den Jungen mitgerissen, schließlich waren wir mit einer kurzen Schnur verbunden. Doch dieser lehnte sich locker und entspannt am Haus an, so als würde er den Unschuldigen spielen.

"Moin Hicks.", ertönte auf einmal eine männliche Stimme. Es war ein stämmiger Wikinger, welcher eine Fackel in der Hand hielt. Deshalb also das Licht. Aber wer war denn bitteschön Hicks? Lässig wank mein Reiter dem Wikinger zur Begrüßung und schenkte ihm ein kurzes Lächeln. Fühlte sich der Junge etwa angesprochen? Neugierig geworden ragte ich direkt im Anschluss meinen Kopf hervor und musterte den Wikinger. Schließlich hatte ich noch nie zuvor andere Menschen außer meinen Reiter so friedlich zu Gesicht bekommen. Als der Mann mitsamt dem Licht verschwand, zerrte der Junge ungeduldig an der Schnur und wies mich zügig darauf hin, ihm zu folgen.

Wir schlichen uns an einem Haus vorbei und blieben vor einem etwas größerem Gebäude stehen, dass mir allzu bekannt vorkam. Es war das Gebäude, in dem der Junge diesem blonden Mann seine Erfindungen präsentierte. In diesem Gebäude wurden auch meines Wissens nach Waffen repariert und gebaut. Also war das hier die Schmiede? Anscheinend ja, denn wir betraten den Innenraum so leise wie möglich. Na ja, zumindest mein Reiter. Mir war das alles hier zu interessant, als das ich leise blieb. Neugierig steckte ich meine Schnauze direkt am Eingang in einen Eimer, in der Hoffnung, einen Fisch zu erstehlen. Doch nach einer Sekunde erklärte ich den Einer für leer und schmiss ihn uninteressiert weg. Knallend fiel er durch ein Fenster aus der Schmiede. Ein giftiger Blick des Jungen genügte, damit ich verlegen wurde. Aber warum mussten wir denn so leise sein?

Wortlos schnappte der schmächtige Wikinger ein Messer und schnitt damit die Schnur auf. Zumindest war er gerade dabei, bis eine weibliche Stimme von draußen rief: "Hicks? Bist du da drin?" Schon wieder dieses Wort Hicks! Aufgeregt schreckte mein Reiter auf und brach sein Vorhaben ab. Auch ich schreckte zusammen, wunderte mich aber wieder, weshalb mein Reiter auf das Wort Hicks reagierte. War das etwa sein Name? Über so etwas wie seinen Namen hatte ich bisher noch nie nachgedacht, aber möglich wäre es doch?

Schon wieder wurde ich von meinen Gedanken gerissen, denn der Junge - dessen Name scheinbar Hicks war - stürmte sofort zu einem Fenster, welches mit zwei quadratischen Holzflächen gefüllt war und riss dieses auf, um nach draußen zu springen. In dem Moment sah ich ein blondes Mädchen vor der Schmiede stehen und fürchtete für einen Augenblick, dass sie mich entdeckt hatte. Glücklicherweise nicht, denn sie kam sofort auf den Jungen - äh, Hicks - zu sprechen.

Mit gespielter Freude begrüßte er das Mädchen: "Astrid! Hey! Hallo Astrid, hallo Astrid! Hallo Astrid!"
"Na, das konnte ja ein hervorragendes Gespräch werden, gleich nach dieser Begrüßung!", feixte ich amüsiert, interessierte mich aber auch schon nicht mehr für die zwei. Stattdessen ließ ich meinen Blick nach draußen schweifen, wo mir plötzlich ein Schaf im Weg stand! Mit aufgerissenen Augen starrte mich das Vieh an und stoppte das Kauen des Grases. Ich fraß natürlich nur Fische, doch hatte ich ein Schaf noch nie in solch einer Nähe sehen können.

Aufmerksam fixierte ich es mit meinem Blick, bis das Tier panisch die Wiese entlang galoppierte. Das Schaf immer noch im Visier preschte ich dem Vierbeiner hinterher. Ich konnte mein Verhalten nicht erklären, es war einfach nur die Lust auf das Jagen gewesen. Ich war eben ein Drache und Drachen waren wild. Das lag in unserer Natur.

Dummerweise hatte ich vergessen, dass mein Reiter immer noch an meinem Sattel gebunden war und zurzeit in einem knifgligem Gespräch steckte. Mit meiner Kraft und Schnelligkeit zog ich ihn mühelos aus der Schmiede, bis er wieder die Kontrolle hatte und fest nach meinem Sattel griff. Heftig zog er diesen zur Seite, sodass ich ihm direkt ins Gesicht sah.
"Was soll das?", fuhr er mich an, seine Wut war nicht zu übersehen.
"Tu- tut mir leid!", stammelte ich vollkommen nervös, doch das genügte dem Wikinger nicht. Von seinem Zorn gelenkt sprang er auf meinen Sattel, öffnete die Prothese und gab mir mit einem unsanftem Klaps zu verstehen, loszufliegen.

"Kein Grund mich zu schlagen!", jammerte ich, gehorchte ihm jedoch. Ohne jegliche Gnade hetzte er mich: "Schneller! Schneller! Schneller!" Ich gewann zügig an Höhe und segelte im schnellem Tempo über die Baumwipfel hinweg. Da mein Reiter sowieso wieder zurück ins Dorf musste, wollte ich ihn einen Gefallen tun und ihn dicht am Rande der Hütten absetzen. Doch er verweigerte die Landung und zischte: "Nein Ohnezahn! Zum Talkessel! Sofort!" Schon fast winselnd gab ich nach und strebte das Tal an. Er wollte mich dort gefangen halten, weil er genau wusste, dass ich aus eigener Kraft nicht hinaus kam. Er hatte Angst, ich würde verschwinden. Mich nicht mehr blicken lassen und ihn einfach alleine im Stich lassen. Sein fehlendes Vertrauen zu mir verletzte mich zutiefst. Aber vielleicht hatte er einfach nur Angst um mich? Wollte er mich im Talkessel haben, damit ich anderen Drachen nicht ausgesetzt war? Ich hatte keine Ahnung, dachte aber auch nicht weiter darüber nach.

Als ich zur Landung ansetzte, sprang Hicks bereits vom Sattel ab und fing sich geschickt am Boden auf.
"Hey!", beschwerte ich mich bei ihm, da ich für die letzten zwei Meter mein Gleichgewicht verlor. Doch dem Wikinger kümmerte das nicht das geringste. Eingeschnappt zückte er sein kleines Messer, welches er in der Schmiede mitgenommen hatte, und schnitt die Schnur mit aller Kraft durch. Danach schnallte er alle Gurte vom Sattel auf und riss mir das Teil vom Körper.

"Jetzt hör doch mal zu!", versuchte ich ihn zu bremsen, "Es tut mir leid, okay?" Hicks beachtete mein Glurren gar nicht und rollte stattdessen den Sattel und die Prothese zusammen, damit er die zwei Sachen nachher einfacher tragen konnte.
"Hallo?", versuchte ich es noch einmal und stubste ihn mit meiner Pranke sanft an, "Hörst du mir überhaupt zu?"
Genervt gab er wieder: "Lass mich in Ruhe, Ohnezahn!"
"Bitte, ich-", sprach ich unsicher auf ihn ein, doch mit einer wilden Handbewegung brachte er mich zum Schweigen. Jetzt half nur noch Blickkontakt. Mit runden, glänzenden Pupillen sah ich ihn an, flehend um eine Entschuldigung. Mir waren die Tränen nahe, ich wollte mich nicht mit ihm streiten. Wimmernd machte ich mich klein und gab winselnde Laute von mir.

Nach einer Weile lockerte er seinen strengen Blick und ließ den eingerollten Sattel mitsamt Prothese ins Gras fallen.
"Hey...", sprach er nun sanft auf mich ein und strich zärtlich seine Hand über meine Schuppen, "Das war nicht so gemeint, bitte vergib mir. Ich wollte nicht so böse auf dich sein, Kleiner." Grummelnd gab auch ich nach und schmiegte meine Stirn an seine Handfläche. Der Streit war nun vergessen und die Stimmung lockerte sich allmählich.

"Weißt du was, Ohnezahn?", murmelte Hicks nun in mein Ohr, "Morgen wird ein toller Tag, versprochen!" Mit diesen Worten nahm er Sattel und Prothese in die Arme und zwinkerte mir zu. Was meinte er damit? Hatte er eine Überraschung für mich?
Doch dann war er auch schon verschwunden und ließ mich im Tal zurück. Schulterzuckend trottete ich zu meinem Schlafplatz, erhitzte ihn und rollte mich müde zusammen.

Ohnezahns LebensgeschichteWhere stories live. Discover now