Es gab Namen

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Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Es war ein seltsames Gefühl, die Antwort auf so viele Fragen zu kennen. Die Welt war groß und sie wuchs für mich von Zeit zu Zeit ein Stück weiter. Alles wurde irgendwie größer. Mein Wissen, mein Körper, die Welt - einfach alles!

Die kleinen, grünen Teilchen auf der Erde ... das waren nicht nur kleine Teilchen - sie hatten Namen! Man nannte sie Gras. Und die Fläche die sie bildeten, nannte man Wiese. Die dunkelgrüne Flüssigkeit in dem riesigem Loch ... das war nicht nur eine Flüssigkeit - auch das hatte einen Namen. Man nannte es Wasser. Die Welt hatte nicht nur Teile, Dinger, Sachen und Zeug - sie hatten Namen!

Die Sonne, die Wolken, der Teich, die Bäume, die Berge, die Flüsse - alles hatte einen Namen. Und all die Namen zusammen nannte man Erde. Es war so seltsam, Dingen einen Namen zu geben. Das war so, als wenn man jemanden ansprechen würde. Total schräg. Und wer hatte überhaupt die Namen erfunden? Wie kam man denn darauf, die endlose Weite über unseren Köpfen Himmel zu nennen? "Endlose-hellblaue-mit-weißen-großen-Flecken-bedeckte-Dimension-welche-keine-Grenzen-hat-und-womöglich-nie-aufhört" hätte doch viel besser als Name gepasst. Aber diesen unvorstellbar riesigen Ausmaß nannte man bloß Himmel. Als handelte es sich nur um eine kleine Fläche.

Doch ich lernte nicht nur die Namen der Erde kennen, sondern auch den von meinem Bruder. Ja, auch er hatte einen Namen. Ich war leicht schockiert, als ich erfuhr dass auch er einen Namen hatte. Eigentlich hätte ich mir das auch denken können, aber irgendwie hatte ich nie so richtig über solche Sachen nachgedacht. Mein Bruder hieß Nachtflug.

Woher ich das wusste?
Er hatte es mir gesagt.
Und wie?
Er hatte mit mir geredet und ich hatte es verstanden.

Ja, ich konnte ihn verstehen. Genauso wie meine Eltern. Schluss mit Gesten und Mimik - jetzt sind Laute gefragt! Brummen, Glurren, Knurren, Murren - all diese Geräusche konnte ich schon von frühester Kindheit erzeugen, doch ich wusste nie, wie und vor allem wann ich sie einsetzen sollte. Durch das Zuhören meiner Familie, hatte ich mich ihnen angepasst und konnte mich mit ihnen verständigen.

Es fühlte sich so seltsam an, sich mithilfe von Geräuschen zu verständigen. Warum konnte man nicht einfach zeigen was man wollte? Zum Beispiel durch Körpersprache oder so. Warum musste man sich auf so eine komplizierte Weise verständigen? Warum?

Einst veränderte sich komischerweise die Farbe des Himmels. Er strahlte sonst ein so schönes blau aus. Mal war es kräftig, mal mild. Hin und wieder waren auch mal weiße Flecken, auch Wolken genannt, zu sehen. Doch diesmal streckte sich ein hässliches dunkelgrau aus. Kein blau mehr, nein, alles war von dieser trüben Farbe bedeckt. Es musste sich um dicke Wolken handeln, doch waren diese nicht normalerweise weiß?

So viele Wolken auf einem Haufen und das auch noch am gesamten Himmel hatte ich noch nie gesehen.

Während jeder sich in der Höhle zurückzog, betrachtete ich fasziniert die Dunkelheit. Die Sonne war weg, aber es waren keine Sterne zu sehen. Noch nicht einmal der Mond.

Plötzlich spürte ich etwas. Es war nass und sehr klein. Ein Tropfen. Ich zuckte vor Schreck zusammen und sah nach oben. Ich hob erstaunt mein rechtes Ohr an, als ein tiefes Grollen ertönte. Jetzt zischte ein Lichtstrahl auf. So schnell war er. Doch die Helligkeit hatte mich am meisten erschreckt. Für den Moment erleuchtete sie ganze Umgebung. Doch dann verschwand es auch schon wieder. Es war wieder dunkel.

Pfeilschnell schossen winzige Tröpfchen auf den Boden. Der Aufprall und die Menge an Tropfen waren so enorm, dass es zu einem Geräusch kam. Ein Plätschern. Oder ein Rauschen. Binnen weniger Sekunden wurde ich nass. Das Wasser tropfte an mir herunter und ließ mich frösteln.

Jetzt kam auch meine Mutter zu mir.
"Magst du nicht reinkommen?", fragte sie mich verwundert.
"Was ist das?", antwortete ich mit einer komplett anderen Gegenfrage.
"Ein Gewitter. Es ist laut, gefürchtet und vor allem gefährlich. Das Krachen nennt man Donner und das Leuchten Blitze. Das herunterfallende Wasser nennt man Regen und alles zusammen Unwetter.", erklärte sie mir und blieb dabei ruhig, "Also was ist jetzt? Willst du rein?"

"Nein, ich bleib draußen. Es ist so wunderschön!", widersprach ich und musterte den mit dunklen Wolken befüllten Himmel. Mit schräg aufgestellten Ohren und einem verwirrten Blick akzeptierte sie meine Entscheidung und trat zurück in die Höhle.

Hinter mir hörte ich noch meinen Vater fauchen: "Ist er jetzt komplett bescheuert!? Schick ihn rein und ich verpasse ihm eine ordentliche Gehirnwäsche!"
Doch meine Mutter verteidigte mich, indem sie sagte, ich sei eben anders als die anderen.

Dagegen ignorierte ich die Streiterei meiner Eltern und bestaunte das Gewitter. Die Erde konnte so eine gewaltige Stärke ausdrücken. So wild und so bedingungslos. Konnte man die Welt eigentlich bändigen? Sie irgendwie in den Griff bekommen? Kontrollieren?
Nein, und dieses Gewitter bewies meine Vermutung.

Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre - es gab die Zeit. Warum man sie eingeführt hatte, wusste ich nicht. Wer auch immer auf die Idee kam, dieser Einfall war wirklich dämlich. Die Zeit brachte nichts. Außer Stress. Wer achtete denn schon auf Stunden oder Tage? Ich schaue doch nicht allen ernstes in den Himmel und überprüfe, wie hoch die Sonne steht oder an welcher Stelle sich die Sterne befinden!

Ich brauchte die Zeit gewiss nicht. Das lag aber auch daran, dass ich sie nicht verstand.

Es war wohl die dümmste Frage die ich jemals gestellt hatte, doch ich fragte meine Eltern, wie lange ich schon lebte.
Daraufhin zischte mein Vater, es sei eine völlig dämliche Frage. Das Problem war nur, dass er alle meine Fragen für dämlich empfand.

Aber warum tat er das? Nur weil er sie nicht selbst beantworten konnte? Mein Vater mochte mich nicht und ich mochte ihn auch nicht. Na immerhin waren wir uns in einer Sache einig...

"Jedes Leben hat einen Anfang. Wir Drachen beginnen mit dem Ei. Es ist für uns ein Schutz vor der Außenwelt. Im Ei ist es warm und wir wachsen heran. Wir werden dann immer größer, bis die Schale bricht. Ist das passiert, sind wir auf der Welt. Ab dem Zeitpunkt beginnen wir zu leben. Wir lernen die Erde kennen und auch unser Leben. Und zu deiner Frage: Du bist jetzt genau einen Monat alt.", erklärte mir meine Mutter mit einem sanften Lächeln auf den Lippen.

"Und wann werde ich sterben?", fragte ich neugierig und ging von etwa drei bis vier Tagen aus.

Erstaunt über meine Frage sah mich meine Mutter mit großen Augen an.

"Salir!", hob sie ihre Stimme plötzlich unerwartet laut an. So hatte sie mich schon häufiger genannt. Eigentlich immer. Ich hatte keine Ahnung, ob das mein Name war. Ich war aber auch irgendwie zu feige, nachzufragen.

"Wir Drachen leben Jahrzehnte lang. Das genaue Alter ist ungewiss, aber über Dinge wie den Tod darfst du noch nicht denken! Du bist noch so jung und musst dein Leben in vollen Zügen genießen. Sprich solche Sachen bitte nicht noch einmal so unerwartet früh an, ja?", bat sie mich nun und schien ein wenig besorgt.

Ich nickte stumm, konnte ihre übertriebende Reaktion jedoch nicht nachvollziehen. Warum verabscheute sie den Tod? Hatte sie Angst davor? Ich stellte mir ihn jedenfalls befreiend vor.

"Magst du spielen? Komm schon Salir, wir haben doch noch nie zusammen gespielt!", quängelte Nachtflug ungeduldig und stubste mich ständig mit seiner Pfote an. Genervt drehte ich meinen Kopf auf die andere Seite und schloss die Augen.

Jetzt schien mein Bruder den Verstand völlig verloren zu haben. Denn nun biss er zärtlich in mein Ohr und zog ein wenig daran. Sofort fletschte ich meine Zähne und verpasste ihn einen Schlag mit meinen ausgefahrenen Krallen. Kläglich jaulte er auf und wich zurück.

"Lass mich!", fauchte ich verärgert und drehte mich nun völlig von ihm weg.
"Och Salir! Sei kein Spielverderber. Jetzt komm, spiel mit mir!", bettelte er stur und schmiegte seine Nase an meine Wange.

Aufgebracht schnappte ich zu. Quiekend sprang Nachtflug in die Höhe und leckte sich mit der Zunge über die kleine Wunde.
"Du weißt wohl nicht wann Schluss ist, was?", schnauzte ich und verengte meine Pupillen zu kleinen Schlitzen.

"Schon gut, dann mach ich halt was alleine.", gab er beleidigt nach und verschwand.
Sollte er doch Selbstgespräche führen oder mit seinem Schatten spielen, ich wollte jedenfalls nichts mit ihm zu tun haben!

Ohnezahns LebensgeschichteWhere stories live. Discover now