Der Junge und ich

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Wir behielten den Blickkontakt noch für eine Weile, bis dem Jungen wohl etwas wichtiges eingefallen sein musste. Musste er noch wo hin? Jedenfalls richtete er sich langsam auf, aus Angst, ich würde ihn angreifen. Wie ironisch, dabei konnte ich seinetwegen nicht mehr fliegen!

Als der Wikinger dann im Felsspalt verschwand, widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Teich. Unmöglich konnte ich die folgende Nacht ohne Futter auskommen, ich brauchte dringend Nahrung.

Nachdem ich - endlich erfolgreich - einige Fische gefangen hatte, fraß ich sie allesamt auf und stillte meinen Hunger für eine Weile.
Als der Nachmittag anbrach, reinigte ich noch einige Wunden im Teich. Das Wasser kühlte und tat mir gut. Selbst meine Schwanzspitze brannte nicht mehr so stark. Hin und wieder kribbelte sie nur etwas.

Aber die Nacht war schlimm. Jede Stelle am Körper tat mir weh, es gewitterte stark und aus der Ferne konnte ich das Gebrülle von Drachen wahrnehmen. Wenn ich mich recht erinnerte, war heute die Alpha-Gruppe dran. Obwohl es absolut absurd war, hoffte ich doch, dass dem Jungen während des Raubzuges nichts passiert war. Ich meinte, er hatte mich immerhin am Leben gelassen, dafür sollte ich ihm dankbar sein. Doch das war ich ihm nicht, denn er hat mir weh getan. Er hat mir sehr weh getan. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Er nahm mir das Fliegen. Was war bitteschön ein Nachtschatten, der nicht fliegen konnte? Ein niemand. Dieser Junge hatte mich zu einer Witzfigur gemacht, jeder Drache war mir nun überlegen.

Der Regen prasselte auf mein Schuppenkleid. Er war kalt und drohte, nicht aufzuhören. Außerdem wehte der Wind diese Nacht sehr stark und ließ mich frösteln. Winselnd lag ich auf der klitschnassen Wiese, meine Unterseite des Körpers vollkommen mit Matsch verschmiert und ein Ohr lauschend in Richtung des Dorfes gerichtet. Dumpfes Geschrei der Menschen konnte ich hören. Hier und da auch mal das Brüllen von Drachen. Es war ein verbitterter Kampf, sowie fast jeden Tag. Immer wieder mussten die Drachen um ihr Leben kämpfen. Die Menschen auch.

Nach einiger Zeit lichtete sich der Krach und der Kampf war beendet. Die Drachen hatten was sie wollten und verschwanden wieder zur Dracheninsel. Ich hatte kurz überlegt, ob ich nach ihnen rufen sollte, doch die Alpha-Gruppe würde nicht über dieses Tal fliegen, das wäre die falsche Richtung. Deshalb winselte ich weiter, zitterte im Regen und wartete auf den nächsten Morgen.

Den ganzen Tag hatte ich gehofft, dass der Junge wiederkommen würde. Ich machte mir viele Gedanken um ihn. Was wollte er und warum hatte er mich gestern so beobachtet?

Mit viel Mühe fing ich die restlichen Fische, die es im gesamten Teich noch gab.
"Na super...", grummelte ich mürrisch, "Wenn ich hier nicht bald raus komme, werde ich wirklich verhungern!"

Den restlichen Tag verbrachte ich damit, mit vielen erfolglosen Versuchen, irgendwie aus dem Tal heraus zu kommen. Es war sinnlos, ich weiß, aber wenn man drohte zu verhungern, tat man alles, was man für irgendwie sinnvoll erklären konnte. Außer den Flugversuchen, badete ich auch etwas im Teich. Es war zeitvertreibend und gab mir ein frischeres Gefühl.

Es war nun früher Abend, die Sonne würde in Kürze untergehen, und ich hielt mich hinter einem großen Felsen auf, der hier im Tal lag, um mich zu säubern. Denn meine Schürfwunden waren leicht verschmutzt und einige meiner Verletzungen brannten auch etwas.

Plötzlich wurde ich bei meinem Vorgehen unterbrochen, denn ich hörte ein Knarksen, einige Meter von mir entfernt. Verwundert ragte ich meinen Kopf in die Höhe, stellte ein Ohr auf und witterte in der Luft. Meine Augen weiteten sich vor Neugier.
"Ist hier jemand?", glurrte ich, doch ich bekam keine Antwort. Auf einmal kam mir der Geruch von Fisch in die Nüstern und außerdem hörte ich Schritte auf mich zukommen.

Ohnezahns LebensgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt