Talentiert, dennoch eingebildet

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Erstaunt blinzelte ich meinen Bruder an. Das hier sollte unsere Heimat werden? So allein? Wir würden die einzigen Nachtschatten auf dieser Insel sein...

"Ist doch ganz nett hier.", wollte er mich überzeugen, als ich nichts sagte, "Einen, mit reichlich Fischen bewohnten, See, einen kleinen Wald, einige dunkle Höhlen und die ein oder andere Bucht. Hier würden wir super aufwachsen und den Rest unserer Kindheit verbringen. Ich würde dir das Fischefangen beibringen und gemeinsam würden wir Kunststücke in der Luft üben. Wir hätten dann endlich richtig Spaß zusammen!"

Unsicher grummelte ich: "Spaß mit wem? Mit den Schrecklichen Schrecken? Wir würden ein Leben in Isolation führen, Nachtflug! Man würde uns vergessen, wir würden das Sozialverhalten verlernen!"
"Jetzt komm mal runter.", beruhigte er mich sachte, "Wir haben ja noch uns. Bestimmt finden wir auch noch andere Drachen. Darunter vielleicht auch Nachtschatten."

Es hatte keinen Sinn noch weiter mit meinem Gefährten zu diskutieren. Wir mussten uns nun auf ein völlig anderes Leben einstellen. Anders als Nachtflug war ich kein Fan von Veränderungen. Aber dies war eine Veränderung. Eine Lebensveränderung.

Aus den Tagen wurden Wochen und wir beide kannten schon fast kein Leben mehr mit Nachtschatten. Klar, wir vermissten unsere Familie, aber wie sollten wir sie finden? Sie waren weg, würden nie wieder kommen. Wir haben in jener Nacht über dem Meer nach ihnen gerufen, sie hatten uns nicht gehört. Die Tödlichen Nadder haben sie zu sehr abgelenkt. Diese Vorstellung, wie der eigene Vater in solch einer Notsituation seine eigenen Kinder vergessen konnte. Nur um sich selbst kümmern, die Kinder zurücklassen. Sie vergessen. Mehr als nur kaltherzig war das. Es war hinterhältig und egoistisch. Ein Verhalten, welches ich nicht beschreiben konnte.

Nachtflug ging anders mit der Situation um. Er dachte oft an unseren Vater, weil er ihn so vermisste. Er trauerte wegen unserer Zweisamkeit. Mich ärgerte das immer, denn es war schließlich seine Idee gewesen, hier allein zu leben.

In den ersten Tagen machte ich mich auf die Suche nach anderen Drachen. Doch mehr als diese drei Schrecklichen Schrecken konnte ich nicht finden. Sie nervten mich jeden Tag, waren wohl nicht ganz bei Sinne.

"Seid ihr die einzigen auf dieser Insel?", hatte ich die Brüder einst gefragt. Sie nickten wie auf Kommando mit dem Kopf und schnatterten: "Unsere Eltern starben vor nicht allzu langer Zeit." Den Grund hatten sie mir nicht verraten. Generell gaben sie nicht viel über ihre Familie und ihr Leben Preis. Für ihre Art waren sie recht intelligent. Das einzige Problem war nur, dass sie die Grenzen manch anderer Drachenarten nicht kannten. Mit ihrem Gequängel und Gekrächze trieben sie unsere Nerven immer weiter an die Spitze bis wir sie verjagten. Doch sie kamen immer wieder zurück. Schreckliche Schrecken waren nun einmal sehr sesshaft.

In der heutigen Nacht, wir lebten nun fünf Wochen auf dieser Insel, saß ich vor unserer Höhle und verfolgte die untergehende Sonne mit meinen Augen. Der Himmel hatte sich schon zu einem knallig buntem Gemisch verfärbt. Von hellblau, bis hin zu einem tiefem orange, weiter zu einem leuchtendem lila und schlussendlich zu einem matten dunkelblau war alles dabei. Fasziniert betrachtete ich das Farbenspiel, bis ich ein schweres Atmen vernahm. Nachtflug hatte gerade sein tägliches Training beendet und kam schnaufend zum Landen. Mit zitternden Flügeln und bebendem Brustkorb kam er auf mich zu.

"Bestzeit!", verkündete er stolz, "Eine komplette Runde um die Insel in nur zehn Minuten! Ich habe nicht eine Ecke ausgelassen, bin um jeden aus dem Wasser ragendem Felsen geflogen und das in meiner Bestzeit."
"Zehn Minuten?", wiederholte ich belustigt, "Selbst ein Gronkel im Rückwärtsgangang wäre schneller als du!"
"Halt die Klappe!", knurrte er, doch seine Erschöpfung war nicht zu übersehen.

Ohnezahns LebensgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt