Alte Freunde

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Ich hatte einen seltsamen Traum, wie schon lange nicht mehr. Ich träumte von meinem Vater. Davon, wie er strahlend auf mich zu kam. So etwas hatte er noch nie gemacht. Überhaupt träumte ich von meiner Kindheit. Als ich noch eine Familie hatte, bevor ich Hicks kannte. Ich träumte, wie Nachtflug, Feuerblüte und ich lachend auf der Wiese spielten. Wir tobten zusammen und der Wind trug einen sommerlichen Duft mit. Irgendwo aus einer der vielen Höhlen roch es nach Fisch. Wir schmissen uns gegenseitig ins Gras und spielten Fangen. So lange, bis wir völlig außer Atem da lagen und die Sonne auf unsere Schuppen schien. Ich träumte, wie unsere Mutter nach uns rief, es gäbe jetzt Futter. Wir aßen gemeinsam, machten Witze und lachten. Mein Vater lachte auch.
Aber ich träumte auch davon, wie sich der Himmel plötzlich verdunkelte. Schwarze Wolken tauchten auf, von denen vorher nicht die geringste Spur zu sehen war. Irgendwo hörte ich ein panisches Kreischen eines Kindes. Feuerblüte weinte plötzlich und ein Sturm zog auf. Der Wind wurde so stark, dass er Bäume entwurzelte und Nachtschatten durch die Gegend schmiss. Ich träumte, wie Nachtflug und ich nach draußen rannten und Blitze auf die Höhlen einschlugen. Ohne auf unsere Eltern zu warten, preschten wir zum Strand. Der Sand peitschte uns in die Augen und die Wellen waren meterhoch. Ich träumte, wie der Wind so stark wurde, dass er mich von Nachtflug trennte. Ein Baum fiel um und landete genau zwischen uns, wie eine Schranke. Dann träumte ich von einer Welle, einem Tsunami. Der Boden wackelte und ließ mich fallen. Der Tsunami spülte Nachtflug von mir weg und ich war allein. Der nasse Sand klebte an meinen Schuppen und ließ mich am Boden liegen. Als die Welle urplötzlich verschwand, ankerte ein riesiges Schiff vor mir. Ein Mann mit Stab und Umhang trat auf die Insel und grinste mich hämisch an. Ich träumte, wie der Rote Tod aus dem Wasser kam und ihr Maul hungrig öffnete. Dann kam noch ein zweiter Mensch vom Schiff. Es war ein schmächtiger Junge, der begeistert auf mich zu rannte. Er zückte ein langes Schwert und... schnitt mir gnadenlos meine linke Schwanzflosse ab. Ich träumte von Blut, von Schmerzen. Ein rothaariger Mann mit Bart kam vom Schiff und funkelte mich merkwürdig an. Plötzlich weinte der Junge, fiel mir über den Hals und legte mir einen Sattel an. Und ich war ihm nicht böse, nein, ich... vertraute ihm. Er war wie ein Freund für mich und stieg auf meinen Rücken. Auf einmal hatte ich eine Prothese an meinem Schwanz, sie ersetzte die linke Schwanzflosse. Ich wartete auf ein rasches Klicken. Als dieses ertönte, sprang ich jauchzend in die Luft. Ich trug den Jungen bis hoch über die Wolken, dorthin, wo alle glücklich waren...

Ich wachte auf, als das Schiff anfing zu wackeln und zu ruckeln. Schlaftrunkend sah ich mich in der Kajüte um und wusste für einen Augenblick nicht, warum ich hier war. Aber dann meldeten sich wieder die Kopfschmerzen und meine pochende Wange. Sofort wusste ich alles wieder.

"Astrid?", gluckste ich, doch die Blondine war nicht da. Nein, nur Hicks lag ruhig und mit geschlossenen Augen auf seiner Matratze. Er war immer noch bewusstlos.

Plötzlich erinnerte ich mich wieder an meinen Traum! Doch ehe ich darüber nachdenken konnte, öffnete sich quiekend die Tür. Ich schaute gespannt auf und sah Haudrauf. Vorsichtig betrat er den Raum, lächelte mich mild an und nahm Hicks in seine Arme. Ich musterte das Stammesoberhaupt neugierig und legte den Kopf schräg.

"Aufstehen, Drache.", brummte er, "Wir sind da."
Mit einem Glurren rappelte ich mich auf und folgte ihm. Ich brauchte keine Stütze mehr, mein Gleichgewicht war wieder da. Kaum ragte ich meinen Kopf aus der Tür, drehte ich ächzend meinen Kopf weg und knurrte leise. Die Sonne hatte mich geblendet, meine Augen hatten sich zu sehr an die Dunkelheit gewöhnt.

Ohnezahns LebensgeschichteWhere stories live. Discover now