Flugunterricht

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"Nachtflug, komm mal rüber!", hechelte ich schon von weitem meinem Bruder zu, der mich in der Ferne schräg ansah.

"Ich habe keine Ahnung, wo Mondregen ist...", beichtete er mir, nachdem ich ihm die Mutter vorgestellt hatte.
"Was?", fauchte ich empört, "Du bist doch zu ihm gerannt, als ich in jener Nacht zusammenbrach und zu Boden fiel!"

"Denkst du etwa, ich habe es bis dorthin geschafft? So leid es mir auch tut, ich weiß nicht, wo Mondregen sich jetzt aufhält."
Wieder brach die Mutter in Tränen zusammen. Sie neigte ihren Kopf weg, um ihr verheultes Gesicht zu verdecken.
"Aber du sagtest, Mondregen ginge es gut!", erinnerte ich ihn.
"Nein, ich sagte, dass ich glaubte, ihm ginge es gut.", korrigierte er mich und sah die weinende Mutter beschämt an.

"Schon gut...", schluchzte sie, "Dann werde ich weiter suchen müssen."
"Ich komme mit.", beschloss ich.
Aufgebracht stoppte mich Nachtflug: "Salir, du kannst nicht einfach mitgehen! Wir müssen hier weg."
"Wenn Mondregen etwas passiert, werde ich mir das nie verzeihen.", grummelte ich und ging fort. Nachtflug gab nach einiger Zeit nach und folgte uns.

Gegen Mittag erreichten wir tatsächlich das Versteck. Wir hatten uns einige Male verlaufen, wussten nicht mehr genau, wo der Ort war. Aber jetzt standen wir genau davor. Der zertrümmerte Haufen Felsen.

Ich zeigte der Mutter den winzigen Höhleneingang, wo sich Mondregen versteckt hatte. Doch der war leer.
"Mondregen?", rief sie nach ihrem Sohn. Stille. Wieder und wieder riefen wir nach dem Schlüpfling, doch er war weg.
"Hier ist niemand.", hauchte sie heiser.

"Lass uns gehen. Wir finden ihn bestimmt anderswo.", versuchte ich die Mutter zu beruhigen. Sie nickte und wir schritten voran.

Erst am Abend kehrten wir wieder zur Küste zurück. Müde und ausgelaugt schmissen wir uns zu Boden. Unsere Beine taten so weh, der Schmerz zog langsam durch unseren Körper. Aber hungrig waren wir nicht, denn die Mutter hatte uns versorgt.
"Morgen werden wir ihn finden.", sprach Nachtflug leise und hoffnungsvoll. Erste Regentropfen fielen herab.
Traurig sah die Mutter uns an. Ihre stechend grünen Augen waren so besorgt, sie konnte einem echt leid tun.

"Vielen Dank, aber ich werde morgen die Insel verlassen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie lange ich schon nach meinem Kind suche. Bei der Suche verlor ich sogar meinen Mann. Er starb, als er die Schlucht entlang balancierte, denn wir hatten ein Wimmern gehört. Dann stürzte er... fiel herab... ist ja auch egal, ich möchte euch nicht mit so etwas belasten."
Ich war schockiert, wieviel die Drachendame durchmachen musste. Ich wollte sie noch etwas fragen, doch da bat Nachtflug verlegen: "Das klingt jetzt seltsam, aber hätten sie die Güte, uns das Fliegen beizubringen?"

Verwundert sah sie uns an: "Sagt, ihr könnt noch nicht fliegen?"
"Nun ja... wir haben es uns irgendwie beigebracht, aber irgendwie auch nicht. Wir brauchen mehr Ausdauer, Kraft und Gleichgewicht.", erklärte ich und sah sie flehend an.
"Deshalb seid ihr also noch hier? Weil ihr noch nicht fliegen könnt?"
Wir nickten gleichzeitig.
"Alle anderen Nachtschatten, die das Feuer und alles weitere überlebt hatten, sind geflohen. Nur ich blieb hier, um Mondregen zu finden. Erfolglos, wie ihr seht. Aber eins sag ich euch: Wenn ihr nicht bald das Fliegen lernt, werdet ihr hier nicht lange überleben.", klärte sie uns auf, "Deshalb werde ich euch gleich morgen früh das Fliegen beibringen. Ich hoffe, ihr werdet es schnell beherrschen, denn je früher wir von hier verschwinden, desto besser!"
Wir bedankten uns ganz herzlich, aber die Müdigkeit zwang uns anschließend auch schon, schlafen zu gehen.

"Salir, aufwachen!", wisperte Nachtflug aufdringlich in mein Ohr. Ich stöhnte genervt auf und drückte mit geschlossenen Augen sein Gesicht mit meiner Pfote weg. Empört schnaufte er auf: "Na schön, dann fliegen wir halt ohne dich weg!"

Sofort blitzten meine Augen auf und ich hob meinen Kopf an. Nachtflug schenkte mir ein freches Lächeln, ehe er sich zu einem Berg von Fischen wandte.
"Hast du die alle gefangen?", fragte ich die Mutter verblüfft. Sie lächelte amüsiert und bejahte.
"Wie lange wir schon keine sättigende Mahlzeit gefressen hatten, nicht wahr Salir?", grinste Nachtflug mir zu und schlang gleich drei Fische gleichzeitig hinunter.

Das Frühstück war köstlich, doch mit vollen Bäuchen konnten wir noch kein Fliegen lernen. Dafür lernten wir ein wenig Theorie.

"Und vergisst nicht -", ergänzte die Drachendame nach langen Erklärungen, "Bei einer zu schnellen Landung, müsst ihr unbedingt einen Ausfallsschritt machen. Ansonsten könntet ihr stolpern und direkt aufs Gesicht fallen, und das wollt ihr doch nicht, oder?"
Wir schüttelten grinsend den Kopf, bis wir vom theoretischen ins praktische umstiegen.

"Okay, wer von euch hat wohl mehr zugehört? Was müssen wir als erstes machen?", prüfte uns die Mutter.
"Klein machen, Körper anspannen, Flügel ausstrecken und abspringen.", fasste Nachtflug stolz zusammen, während ich ihm einen giftigen Blick zuwarf.

"Ein wenig detaillierter!", brummte unsere Lehrerin und ließ es mich besser machen. Als sie mit der Antwort zufrieden war, konnte es auch schon losgehen.

Als der ältere von uns, durfte Nachtflug anfangen. Obwohl er bei der Theorie, nun ja, durchgefallen ist, machte er sein Ding doch sehr gut. Er befolgte den Anweisungen von Mondregen's Mutter und hatte genügend Selbstvertrauen. Anschließend war ich an der Reihe. Das Abheben gelang mir schon sehr gut, auch mein Gleichgewicht konnte ich halten, doch ich hatte nicht genügend Ausdauer und es dauerte nicht lange, bis ein stechender Schmerz durch meine Flügel fuhr. Ich musste landen.

"Das kriegen wir noch hin.", tröstete mich die Mutter, "Du bist ja auch noch etwas jünger. Ich hatte damals auch noch etwas Schwierigkeiten mit der Ausdauer." Ich lächelte ihr dankbar zu.
Nach einer kurzen Verschnaufpause übten wir eifrig weiter. Und das Training fiel uns mit einer Lehrerin deutlich leichter, als dass wir es uns selbst beibrachten.

Gegen Sonnenuntergang beherrschten wir das Fliegen schon ganz gut. Doch ich hätte niemals gedacht, dass wir nur zwei Tage dafür brauchten. Und trotz unserem Fortschritt hatte die Mutter noch Zweifel in uns. Schon fast wie eine eigene Mutter befürchtete sie, dass wir es doch nicht schafften. Sie meinte es nicht böse, doch wir hatten nur ein zwei Tage langes Training. Im Durchschnitt brauchte ein Nachtschatten unseres Alters etwa vier bis fünf Tage.

"Egal, dann üben wir morgen eben weiter.", schlug Nachtflug am Abend gelassen vor. Wir fraßen unseren Fisch, den die Mutter wieder mal für uns gefangen hatte und legten uns ins Gras.

"Verstehst du es nicht?", hauchte die Drachendame ängstlich, "Wir können nicht bis morgen warten!"
Verdutzt schlang ich meinen angeknabberten Fisch herunter und sah sie schräg an.
"Heißt das-", wollte ich nachfragen, doch sie antwortete schon: "Ja. Morgen werden wir fliehen. Egal, wie weit wir kommen werden."

Ohnezahns LebensgeschichteWhere stories live. Discover now