Herrenlos und frei

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Erschrocken über diese unerwartete Leichtigkeit, wurde ich etwa doppelt so schnell von meinen Flügeln nach oben katapultiert, als ich es gewohnt war.
Ich war so leicht!
Ohne Sattel und Reiter war ich um einiges schneller als üblich. Meine Flügelschläge kosteten mich kaum Kraft, so leicht war ich!

Über die Monate hatte sich meine Nackenmuskulatur so sehr an das Gewicht meines Reiters gewöhnt, dass das Gefühl, ohne ihn fliegen zu können, sehr eigenartig war. Es war nicht dieselbe Freiheit, die ich früher hatte. Etwas war anders. Es lag wahrscheinlich an der Prothese, sie würde meine alte Schwanzflosse niemals ersetzen können. Keine Prothese auf der gesamten Welt könnte das. Dieses Gefühl, mit echten Gliedmaßen fliegen zu können, war einfach unersetzlich.

Der Wind bließ mir eisig ins Gesicht, wie ein kalter Schauer. Und wenn man es nicht wüsste, würde man denken, dass meine Augen wegen dem starken Gegenwind tränten. Das taten sie aber nicht, denn es war nicht der Wind, der sie zum Tränen brachte. Es lag an mir. Ich weinte.

Das Fliegen war alles andere als leicht. Die künstliche Schwanzflosse war ungewohnt für mich. Sie klickte nicht, wenn man sie öffnete. Nein, sie klirrte und rasselte. Das war ein neues Geräusch für mich, was das Fliegen nur erschwerte.

Ich war noch nicht weit geflogen, eigentlich schwirrte ich immer noch über der Insel Berk. Nur konnte Hicks mich nicht mehr sehen, da ich über den Wolken war. Ich musste pausieren, das Fliegen war zu schwierig!

Mühsam ging ich in den Sinkflug über, bis Berk wieder in Sicht kam. Ich machte absichtlich einen großen Bogen um das Dorf und stürmte geradewegs auf einen vertrauten Ort zu. Dem Talkessel.
Denn ich brauchte eine Auszeit. Ich konnte mit der Solo-Schwanzflosse noch nicht umgehen. Das war zu schwer.

Die Baumwipfel huschten dicht unter meinem Bauch hinweg und der Wind rauschte laut an meinen Ohren. Ich zog meine Schwingen einige Zentimeter ein, um an Höhe zu verlieren. Der Graben, den ich bei meiner Bruchlandung, als Hicks mich jene Nacht abgeschossen hatte, erschuf befand sich immer noch im Waldboden. Auch die zersplitterten Bäume, die meinem Sturz zum Opfer wurden, waren noch da.
Und nun tauchte das Tal auf, in dem Hicks und ich Freunde wurden. Ich legte meine Flügel an und landete schließlich neben dem Teich.

Kopfschüttelnd näherte ich mich dem Wasser und schielte hinein. Es waren scheinbar keine Fische dort. So rollte ich mich am Ufer zusammen und ließ meinen Kopf auf meinen Vorderpfoten ruhen.
Ich fiel in einen Leichtschlaf, wurde aber wenig später geweckt, als einzelne Schneeflocken auf meinen Schuppen landeten und auftauten.
Ich blinzelte verschlafen und blickte nach oben. Milliarden von kleinsten Schneeflocken taumelten nach unten und bedeckten das Gras. Verspielt fing ich einige von ihnen mit meiner Zunge auf und schmatzte dabei appetitlich.

Als es langsam kälter wurde, entschied ich wieder zu fliegen. Ich wusste immer noch nicht, was Hicks mit dieser Prothese bezwecken wollte, aber ich verstand ihren Nutzen. So stemmte ich mich auf und flog mit einem kräftigen Sprung aus dem Talkessel hinaus. Rasselnd öffnete sich das Ersatzglied und beförderte mich immerzu nach oben. Die Leichtigkeit auf meiner Halsbeuge war mir immer noch fremd, aber ich genoss es. Ja, manchmal war auch Hicks eine Last für mich gewesen. Es war schließlich nicht immer einfach gewesen, ihn täglich von einer Insel zur anderen zu tragen. Jetzt kostete mich das Fliegen viel weniger Kraft.

Ich glitt ohne auch nur einen Flügelschlag um das Tal herum und ließ meinen Blick in den Teich schweifen.
Plötzlich blinkte etwas aus dem Wasser heraus! Es war ein greller Schimmer, welcher wieder verschwand, als ich einen anderen Blickwinkel bekam. Die Sonne konnte es nicht gewesen sein, der Himmel war stark bewölkt.

Neugierig geworden setzte ich erneut zur Landung an. Der Schnee knirschte, als ich meine Pranken absetzte. Ich blickte ins Wasser, bis mich das Blinken von vorhin blendete und ich meine Augen zusammen kniff.
"Was ist das?", grummelte ich skeptisch und weitete meine Augen wieder etwas. Das Blinken war verschwunden.

Ich näherte mich dem Wasser, sodass mein Spiegelbild zu sehen war. Auf der Oberfläche hatte sich eine hauchdünne Eisschicht gebildet. Die vom Himmel fallenden Schneeflocken erschwerten meine Suche nach dem Blinken ein wenig. Aber es tauchte nicht mehr auf.
Verwirrt legte ich meinen Kopf schräg. Plötzlich funkelte es an der selben Stelle nochmals! Erschrocken drehte ich meinen Kopf wieder nach oben, bis es abermals verschwand. Ich knurrte leicht verärgert und verengte meine Augen. Es musste sich um eine Reflektion handeln. Irgendwas war dort im Wasser und wurde vom Tageslicht reflektiert. Anders konnte ich es mir nicht erklären.

Ich änderte wieder meine Perspektive etwas, bis ich den richtigen Winkel erwischte und es wieder blinkte. In der Sekunde genau sprang ich in das Gewässer und schnappte nach diesem Leuchten. Ich hatte die Kälte unterschätzt. Es war eiskalt. Wortwörtlich.

Die viel zu geringe Temperatur stach auf meine Schuppen ein und ließ mich aufschrecken. Doch da hatte ich bereits dieses etwas, welches das Blinken verursachte, im Maul. Schockiert über die Kälte riss ich meinen Kopf wieder aus dem Wasser, den Gegenstand gut zwischen meinen Zähnen geklemmt.

"Kalt!", fauchte ich gereizt und ließ meinen Fund im Schnee fallen. Benommen schüttelte ich die Nässe von mir ab und schnüffelte an den Gegenstand. Durch das Wasser war der Geruch nicht identifizierbar, was mich grübeln ließ. Ich betrachtete es genauer. Meine Nüstern streiften dabei den Rand.
Scharf!  
Erschrocken hob ich meinen Kopf an und riss meine Augen auf. Das war nicht nur ein Rand, es war eine Klinge!
Ein tiefes Knurren erklang aus meiner Kehle, von irgendwo her kannte ich dieses Teil... diese Waffe.

Es war ein Messer. Klein, aber gefährlich. Das Messer, welches Hicks bei unserer ersten Begegnung auf mich gerichtet hatte! Damit hatte er mich einst töten wollen!

 Das Messer, welches Hicks bei unserer ersten Begegnung auf mich gerichtet hatte! Damit hatte er mich einst töten wollen!

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Ich erinnerte mich, wie er die Waffe ins Wasser kickte, bevor er mir zum ersten Mal einen Fisch gab. Kein Zweifel, es musste sich um das selbe Messer handeln!
Aber Hicks brauchte es nicht mehr, inzwischen hatte er von seinem Vater ein neues geschenkt bekommen.
Damit ich mich nicht daran verletzte, peitschte ich die Waffe mit meiner Prothese ins Wasser. Dort würde sie niemanden etwas zu leide tun. Es platschte und daraufhin sank das Messer langsam wieder in den Abgrund.

Um etwas Energie raus zu lassen, drehte ich einige Runden über den Wolken.
Meine Flügelhäute flatterten im Wind und meine Ohren tänzelten ein wenig umher, ich war wirklich schnell. Der Sauerstoff hier oben war knapp, doch konnte ich ausreichend Luft zwischen meinen Zähnen einziehen. Die Prothese blieb mir treu und auch der Wind spielte gut mit. Ich segelte entspannt über die Wolkendecke und sog den Duft des Meeres ein.
So hatte ich einen Flug schon lange nicht mehr gefühlt. Weit unter mir kreischten einige Möwen durcheinander, aber das störte mich nicht. Nur zogen sich die Vögel im Winter meist zurück, weshalb mich diese Möwen etwas wunderten. Vielleicht trotzten sie die Kälte oder machten sich gerade auf den Weg in den Süden.

Während ich meine Flugbahn zog, musste ich an Hicks denken. Warum machte er mir das Fliegen möglich? Wollte er mich wirklich loswerden? Und was, wenn er es nur gut gemeint hatte?
Nachdenklich sank ich meinen Kopf, sodass mein Blick auf die Wolken fiel.  
Egal was Hicks vorgehabt hatte, ich brauchte erst einmal eine Auszeit. Einen Abstand von ihm. Auch wenn ich ihn womöglich missverstanden hatte, konnte ich jetzt nicht zu ihm.

Ich überlegte, wo ich mich niederlassen könnte, dabei lag die Antwort bereits vor mir: Ich hatte die Dracheninsel erreicht.

Der einst so furchteinflößende Ort hatte sich zu einem zertrümmerten Schlachtfeld entpuppt. Das Gestein war schwarz und die größten Teile mit Asche bedeckt. Nach längerem Ansehen erinnerte mich die Insel an meine alte Heimat. Die Insel der Nachtschatten. Lange war es her, als ich noch dort lebte. Schon in frühem Kindesalter hatte ich mein Zuhause verlassen müssen. Aus Furcht dort frühzeitig zu sterben. Wenn ich genauer nachdachte, hatte ich die meiste Kindheit im Drachennest verbracht. Es waren immerhin neun Jahre gewesen.

Ohnezahns LebensgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt