Wir müssen sehen was kommt

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"Ich muss dir was sagen.", beichtete Nachtflug verlegen. Wir hatten uns einigermaßen von dem Überfall erholt und saßen nun ganz oben auf den Felswänden, die das Tal einkesselten. Es war nicht mehr als Tal zu bezeichnen. Statt eine Blumenwiese bedeckte Asche den Boden und Bäume wurden zu verkokeltem Kleinholz verarbeitet. Die Felswände verfärbten sich grau und hatten viele Brandstellen. Büsche und Sträucher existierten nicht mehr.

"Was denn?", fragte ich trocken, ignorierte seine Worte und starrte das verbrannte Tal an.
"Es tut mir leid.", gab er zu.

Eines meiner Ohren zuckte und ich bekam wachere Augen.
"Was?", fragte ich nun aufgeweckter.

"Dass du meinetwegen fast gestorben wärst.", erklärte er.
Ich legte den Kopf schräg und wünschte seine Gedanken lesen zu können.

"Ich habe dich beauftragt, dich in einem Busch zu verstecken, während ich mir Schutz an den Felswänden erhoffte. Das war dumm und naiv von mir. Wäre dir etwas passiert, würde ich mir das niemals verzeihen."

Eine einzelne Träne entfloh seinem Auge und er sank betrübt den Blick.
"Das war nicht deine Schuld.", versuchte ich ihm zu erklären, "Ich hätte es genauso gut wissen müssen."

Er lächelte mich schwach an und fragte mich vorsichtig: "Also verzeihst du mir?"
Ich nickte und sah ihm kurz in die Augen. Das sonst so lebhafte gelb in ihm war grau und blass. Als würde Nachtflug nicht mehr das Schöne im Leben sehen. Trübe Schatten verzierten sein trauriges Gesicht und ich konnte spüren, dass ihm etwas auf dem Herzen lag.

"Was hast du denn?", fragte ich so leise, dass ich befürchtete nicht erhört zu werden. Er schwieg und schlug seine Augen zu. Nicht einmal seine Schwanzspitze zuckte.

Als ich bereits keine Antwort mehr erwartete, wisperte er heiser: "Ich habe Angst."

Ich erstarrte kurz als ich seine Worte wahrnahm. Wenn Nachtflug Angst hatte, musste ich mich auch fürchten.
"Wovor?", fragte ich kahl und suchte mit meiner Zunge nach Speichel. Vergebens.

"Davor, dass wieder andere Drachen kommen werden.", antwortete er nun bewusster und seufzte schwach. Auch ich ließ mich hängen und starrte den steinigen Boden an. Mit meinem Auge verfolgte ich die winzigen Rillen im Gestein und blendete im Augenwinkel das verbrannte Tal aus.

"Meinst du, die kommen wieder?", wollte ich von ihm wissen und ignorierte dabei meine Furcht.
Ein Zucken mit seiner Schulter war die einzige Antwort.
"Was wollten die hier? Warum haben sie alles zerstört?", hakte ich weiter nach und von Wort zu Wort konnte man meine Angst immer deutlicher heraus hören.

"Weiß ich nicht.", gestand er, "Aber es kommt das Gerücht auf, dass neue Arbeiter gesucht werden."
Ich hob ein Ohr an.
"Welche Arbeiter? Und wofür?", erkundigte ich mich und wurde immer neugieriger.

"Keine Ahnung, das war alles was ich gehört habe.", bekannte er und würdigte mir keines Blickes. Seine Ohren hingen betrübt nach unten, sowie sein Kopf und seine Flügel.

Wir beobachteten noch einige Zeit den aufsteigenden Qualm, welcher aus einigen Erdlöchern empor ragte. Und schon wieder bekam ich ein seltsames Gefühl. Es war dieses Empfinden, nicht Zuhause zu sein. War diese Insel hier überhaupt noch mein Zuhause? Gehörte ich überhaupt noch hierher?

"Wir sollten uns mal wehren.", knirschte ich entschlossen und fixierte die Asche auf dem Boden. Fragend schielte Nachtflug zu mir rüber.
"Na wir sollten diese Drachen umbringen! Es kann nicht sein, dass sie unsere Heimat nach Lust und Laune zerstören und wir darunter leiden.", argumentierte ich und ein gedämpftes Knurren erklang aus meiner Brust.

"Willst du etwa einen Krieg ansagen?", schmunzelte mein Bruder, doch es klang auch etwas ernstes in seiner Stimme. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich keinen Krieg aufrufen konnte. Würde ich auch nicht.

"Nein!", widersprach ich und verdrehte dabei die Augen, "Ich meine ja nur, dass wir uns irgendwie verteidigen müssen. Denkst du etwa, wir sollen das auf uns sitzen lassen? Dann können sie uns doch direkt umbringen!"

Ein Fauchen erzischte zwischen Nachtflug's Zähnen.
"Du respektierst die anderen Drachenarten nicht! Wir Nachtschatten mögen stark sein, ja, aber wir können uns nicht so einfach mit einem Donnertrommler oder ähnlichem vergleichen. Wir müssen sehen, was kommt.", lehrte er mich.

"Sehen was kommt? Und was, wenn es kommt? Ist es dann nicht zu spät?", durchlöcherte ich ihn mit Fragen und sah ihn eindringlich an.
"Egal...", seufzte er.
"Nein, ist es nicht!", entgegnete ich. Es war mir nicht egal. Im Gegenteil: es interessierte mich. Sah er nicht, dass wir alle in großen Gefahren steckten?

Ich wollte ihm gerade eine weitere Frage stellen, als auf einmal ein kleiner Nachtschatten zu uns tapste. Der Schlüpfling war höchstens einige Monate alt, war aber schon ansprechbar.

Ehe der Kleine den Abgrund ins Tal hinab stürzen würde, lief ich besorgt zu ihm: "Wo kommst du denn her? Wo sind deine Eltern?"
"Weiß ich nicht.", jaulte er beängstigt und sah mich mit großen Augen an. Es war ein tiefes grün.

"Seit wann hast du sie denn verloren?", erkundigte sich nun Nachtflug und blieb anders als ich sehr ruhig.
"Wir haben gestern Abend Verstecken gespielt.", erklärte uns der Schlüpfling zögernd, "Obwohl der leuchtende Kreis noch nicht ganz verschwunden war, war es sehr dunkel. Der Kreis war auch nicht zu sehen, weil es so dunkel war. Ich musste oft husten und sah so komische flackernde Streifen, die vom Boden aus in die Höhe schnellten. Ich versteckte mich in unserer Höhle und wartete, bis mich Mami und Papi fänden. Aber sie kamen nicht. Irgendwann wollte ich sie suchen und bis jetzt habe ich sie immer noch nicht gefunden."

Ich war über seine lange Erzählung beeindruckt. Nicht jeder konnte in dem Alter so gut erzählen. Mir war klar, dass er mit "Kreis" die Sonne und mit "Streifen" das Feuer meinte. Und wie es zu dem Versteckspiel kam, konnte ich mir auch schon erklären. Nur das Verschwinden der Eltern blieb mir ein Rätsel.

"Alles gut, wie heißt du denn?", wollte Nachtflug wissen.
"Mondregen.", antwortete der Kleine.

"Na schön... Mondregen... Wir werden deine Eltern morgen weiter suchen, okay? Heute ist es schon zu spät.", beschloss Nachtflug und warf einen Blick auf die orangenen Sonnenstrahlen, die gerade noch durch die dicken Wolken lugten.

Doch eine Frage kam mir auf: "Und wo soll er schlafen, wenn er doch jetzt keine Eltern hat?"
"Gute Frage.", brummte mein Bruder, "Komm mit, ich hab eine Idee."

Ohnezahns LebensgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt