Der Beginn der Flucht

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Ich hielt es nicht für richtig einfach weg zu gehen. Deshalb gab ich die Hoffnung noch nicht auf und musterte meinen älteren Bruder genau.

Besonders fixierte ich meinen Blick auf seinen Bauch und seinen Brustkorb. Doch ob er stieg oder sank konnte ich nicht genau erkennen.
Einige Male sagte ich seinen Namen, aber er reagierte nicht. Schließlich legte ich mich flach neben ihn hin und rieb meinen Kopf an seinen Brustkorb, um sein Herz hören zu können.

Bumm, bumm, bumm...

War es mein eigener Atem oder konnte es wirklich das noch schlagende Herz meines Bruders sein?
Ich fing an zu wimmern, weil ich es nicht wusste. Jetzt war es noch schwerer, den Unterschied zu erkennen.

Zwei Tränen kullerten langsam mein Gesicht hinab.
Schluchzend wisperte ich: "Nachtflug, bitte sag mir, dass du lebst! Bitte..."

Das Pochen war so leise, vielleicht war es nur eine Einbildung? Aber wenn Nachtflug wirklich noch lebte, warum reagierte er dann nicht?
"Nachtflug, bitte!", schluchzte ich immer wieder verzweifelt und presste seine Pfote in meine.
Ich kniff die Augen zu, spannte meinen Körper an, hielt die Luft an - ich tat alles, um dieses ekelige Gefühl loszuwerden. Das Gefühl der Einsamkeit. Zu glauben, dass Nachtflug tot war.

Aber da war doch noch dieses Pochen? Sein Herz musste einfach noch in Bewegung sein, anders konnte ich es mir nicht erklären.
"Steh auf...", murmelte ich gedankenverloren und befand mich auf der Schwelle in einen traumlosen Schlaf zu fallen.

Fast wäre das auch passiert, wäre ich nicht durch ein Zucken wieder wachgerüttelt worden. Langsam und müde öffnete ich meine Augen, hatte kaum noch Kraft aufzuschauen, aber da sah ich plötzlich den zuckenden Körper meines Bruders.

Er stöhnte einmal auf und hievte seinen Körper schwer atmend zur Seite. Dann blinzelte er mich an. Sein Gesicht war verdreckt und mit Kratzern verziert. Ich schaffte es nicht ihn anzulächeln, denn dafür fehlte mir die Zeit zum realisieren.

"Nachtflug? Alles okay mit dir?", fragte ich ihn leise, kaum hörbar.
"Salir, bist du das? Ich kann dich nicht sehen!", schnaufte er erschrocken und sah verwirrt um sich.

Ich leckte mir nachdenkend über die Lippen und besänftigte ihn: "Alles gut, bleib ruhig. Du wirst bestimmt in Kürze wieder sehen können, das ist nur vorübergehend, denke ich."

Er schüttelte einmal kräftig seinen Kopf und blinzelte wieder mehrmals am Stück. Nun wurden seine Pupillen rund, sie waren vorher zu Schlitzen geformt. Als er seinen Blick auf mich fokussierte, lächelte er mich erleichtert an. Ich erwiderte sein Lächeln.

"Wo sind die ganzen Drachen?", fragte er mich, nachdem er wieder sehen konnte.
"Ich weiß nicht.", gab ich zu, "Aber sie sind in dieselbe Richtung geflogen, wie die Gronckel und die Riesenhaften Albträume."

"Interessant.", brummte er nachdenklich und sah in den Himmel. Ich hätte niemals gedacht, dass man diese Insel nach dem nächtlichen Feuer noch mehr ruinieren konnte. Kein einziger Baum stand mehr da, Gewässer beinhalteten statt Wasser einen dickflüssigen Schleim aus Asche, Schmutz und Wasser und das Gras war vollkommen abgebrannt.
Eigentlich war unsere Heimat nur noch ein schwarzer Fleck. Eine schwarze Insel.

Wir hielten uns nicht lange hier auf und machten uns auf den Weg. Auf den Weg ins nirgendwo. Hauptsache weg von dieser Insel. Unsere Mutter war tot, unser Vater ist abgehauen und unsere Schwester war verschwunden. Wir waren nun auf uns selbst gestellt, aber wir glaubten daran, unsere Familie bald wiederzusehen. Mama würde uns von oben zuschauen und uns beschützen. Und unser Vater hat Feuerblüte bestimmt schon gefunden und machte sich schon auf den Weg zu einem sicheren Zuhause.

Wir schlenderten durch das schwarze Schlachtfeld und begegneten dabei keinem einzigen Nachtschatten. So alleine zu sein, war unheimlich. Man fühlte sich so wehrlos und ausgegrenzt. Aber diese Stille um uns war das Schlimmste.
Ich musste dem ein Ende setzen und sprach: "Weißt du, woher all die Drachen kamen?"

"Von fernen Inseln.", antwortete er mir, "Aber weißt du, was ich glaube?"
Ich schüttelte neugierig den Kopf und beschleunigte meinen Gang, sodass ich neben ihm lief.
"Ich glaube, dass die Drachen dazu gezwungen werden."
"Wozu?"
"Dazu, alles zu zerstören und eine bestimmte Richtung anzustreben. Ich bin mir sicher, dass jemand die Drachen kontrolliert. Warum sonst sollten sie uns angreifen und in einem Schwarm nach Norden fliegen? Das muss doch einen Grund haben, findest du nicht?"
Ich stimmte ihm zu und dachte über seine Vermutung nach.
"Wer sollte denn dafür verantwortlich sein?", wollte ich von Nachtflug wissen.
"Keine Ahnung, irgendein Drache halt. Vielleicht ein Großer Überwilder?"
Ich nickte, war aber nicht ganz bei der Sache.

Hatte Mama nicht mal irgendwas von einem Anführer gesagt? Einem Herrscher, der Drachen kontrollieren konnte? War da nicht auch ein Nachtschatten im Spiel? Ich glaubte allmählich, dass das etwas damit zu tun hatte...

Kilometer um Kilometer ließen wir zurück und der Hunger quälte mich über Stunden. Ich maulte mehrmals herum, doch Nachtflug meinte, dass wir durchhalten mussten. Aber ich konnte kaum noch sprechen, weil ich so einen Durst hatte. Bestimmt würde ich schon bald umfallen...
Mein Körper machte den Spaß auch nicht mehr lange mit und ich bekam Seitenstiche und sogar erste Krämpfe.

Müde schnaufte ich: "Nachtflug, bitte, lass uns eine Rast machen! Ich kann nicht mehr!"
Gnädig sah er mich an und nickte erschöpft. Nahrung konnten wir uns erstmal nicht anschaffen, denn dazu fehlte uns die Kraft. Wir mussten schlafen, Kräfte sammeln.

Als wir nebeneinander eingerollt da lagen, fragte ich Nachtflug besorgt: "Wie sollen wir eigentlich die Insel verlassen? Wir können doch noch nicht fliegen."
"Das regeln wir morgen.", brummte Nachtflug im Halbschlaf, "Lass uns erstmal schlafen."

Ohnezahns LebensgeschichteWhere stories live. Discover now