Unerhofftes Wiedersehen

247 22 2
                                    

Eng, Drache an Drache, standen sie da. Ein reines Gewimmel und Gequetsche auf so einer kleinen Insel. Wir brauchten einige Zeit, landeten aber schließlich dicht am Ufer.

"Sind das alle Nachtschatten?", fragte ich ungläubig.
"Ja, alle, die es überlebt hatten. Traurig, dass unsere Anzahl nur so knapp ist, um so eine winzige Insel zu befüllen...", brummte Mondregen's Mutter.
Ich nickte traurig, hielt aber auch direkt Ausschau nach bekannten Gesichtern.

"Salir!", schrie mich Nachtflug plötzlich von der Seite an, "Ich fasse es nicht, da ist Papa!" Aufgeregt stürmte mein Bruder in die Menge und bahnte sich geschickt seinen Weg zwischen den Nachtschatten hindurch. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Doch einige Sekunden später gab ich mir einen Ruck und folgte ihm. Vorher drehte ich mich aber nochmal um. Die Mutter nickte mir verständnisvoll zu. Ich lächelte dankbar und machte mich auf den Weg.

Gerempel, Geschubse und Gedrängel. Durch all das mussten wir hindurch, bis wir an einer etwas freieren Stelle ankamen. Ich schluckte geschockt. Da, vor uns, stand tatsächlich der Nachtschatten, der sich unser Vater nannte. Auch er blieb stur stehen und fixierte uns mit seinem strengen Blick. Seine Augen sahen irgendwie kalt aus, seine Pupillen relativ schmal. Die eine oder andere Narbe verzierte sein Gesicht. Unkontrolliert dröhnte ein leises Knurren aus meinem Kehlkopf. Ich wollte es stoppen, doch meine Emotionen hatten die komplette Macht über meinen Körper. Ich kopierte den Blick unseres Vaters, mein Schwanz peitschte aufgeregt.

Wie ein kleines Kind rannte Nachtflug auf ihn zu und schlang seinen Hals so gut es ging um den unseres Vaters. Er blieb immer noch regungslos stehen, als glaubte er nicht, dass seine Kinder gerade vor ihm stehen.

"Ich hab dich so vermisst!", glurrte Nachtflug.
Jetzt trat auch ich näher und zwang mich zu einem Lächeln. Der Vater starrte die ganze Zeit nur mich an, Nachtflug ignorierte er. Was sollte das werden? Eine Entschuldigung? Ich brummte, fühlte mich unwohl.

Nachtflug redete ständig auf ihn ein, doch er zeigte keine Reaktion. Er sah mich nur kahl an.

"Wie groß ihr geworden seid...", murmelte er, bewegte seine Lippen kaum und klang dabei fürchterlich traurig.
"Du warst ja auch lange weg.", murrte ich und verzog kaum sehbar mein Gesicht.

"Wo ist Feuerblüte? Geht's ihr gut?", erkundigte sich Nachtflug schnell. Jetzt beachtete unser Vater auch ihn. Überrascht sah er seinen ältesten Sohn an und wunderte sich: "Ist sie nicht bei euch? Oder bei eurer Mutter?"
Bei seinem letzten Wort kam es plötzlich in mir hoch. Ich konnte es nicht bremsen, Tränen stauten sich sofort in meinen Augen und meine Gefühle ließen mich deprimieren.

Nachtflug erging es genauso. Wie schwer es ihm jetzt fallen musste, diesen Satz nun ein zweites Mal zu sagen. Erst mir, jetzt unserem Vater. Er schluchzte, traute sich nicht, es ihm zu sagen. Beschämt sah er zu Boden, beobachtete, wie seine Tränen hinab tropften.

"Mama ist tot.", sprach ich das aus, wovor sich mein Bruder fürchtete.
Laut schnaufte unser Vater auf.
"Was! Das ist unmöglich, sie kann nicht... Was fällt dir ein!", brüllte er mich an. Ich heulte wie ein Baby, war gekränkt und zutiefst verletzt von seinen Worten.
"Es ist die Wahrheit!", weinte ich. Den darauffolgenden Satz wollte ich erst nicht sagen, doch die Wut war zu groß, deshalb tat ich es trotzdem: "Weil du gegangen bist!"
Okay, ich hätte es nicht sagen sollen...

"Dummes Kind!", schrie er mich an, sodass es jeder hörte, "Niemand braucht dich!"

Wozu denn jetzt dieser Satz!? Erinnerungen stürmten meinen Verstand, sie hatten alle Macht über mich. Ich heulte weiter, konnte nicht mehr denken. Ich sah die Zeit vor mir, wo ich nichts mit meinem Leben anzufangen wusste. Wo ich mich fragte, weshalb man leben sollte. Wo ich mein Leben hasste. Wo ich jeden hasste. Ja, die Zeit, an der ich wahrhaftig deprimiert war.

Ich wollte noch etwas sagen, schaffte es aber nicht. Stattdessen rannte ich einfach davon. War vermutlich nicht die beste Idee, aber was anderes fiel mir nicht ein. Ich musste einfach weg, konnte meinem Vater nicht ins Gesicht sehen. Nachtflug wollte mich noch aufhalten, doch als ich ihn drohend anfauchte, hielt er inne.

Ich sprintete davon, rempelte jeden an, achtete nicht auf die Blicke der anderen Nachtschatten. Ich spürte, wie Nachtflug mir folgte. Ich flüchtete zu dem Ufer, an dem wir landeten. Doch die Mutter war nicht mehr da. Sie suchte wohl ihren Sohn. Ihr sei es gegönnt, aber ich wollte weg. Ich sah keine andere Möglichkeit, als zu fliegen. Hoch über die Wolken. Ja, es war unmöglich für mich, ich weiß. Ich würde es nicht schaffen, die Höhe wäre zu viel für mich. Aber ich musste es versuchen, selbst wenn ich dabei umkäme.

Ich raste auf einen großen Felsen und sprang von da ab. Ich war so aufgeregt, viel zu schnell schlug ich mit meinen Flügeln. 
Nach oben, nach oben, nach oben! Einfach nur die Wolken erreichen, keinen Nachtschatten mehr sehen wollen.

Ich schlug meine Flügel mit kreisenden Drehungen, damit ich schneller an Höhe gewann. Ich hörte, trotz des lauten Zischen des Windes, mein Herz aufgeregt schlagen. Mein Magen krümmte sich während des Aufstiegs seltsam zusammen, als hätte man mir dort einen heftigen Tritt verpasst.

"Salir!", keuchte Nachtflug weit unter mir. Ich konnte ihn kaum hören, spürte aber, dass er mich verfolgte.
Die Wolken über mir drehten sich wie in einem Karussell, weil ich in der Art eines Kreisels nach oben flog.

Eiskalt lief mir ein Schauer über meine Schuppen, alles war vernebelt und so nass. Ich durchquerte gerade eine Wolke! Als ich am anderen Ende heraussprang, fröstelte mein Körper. Aber Nachtflug folgte mir tapfer. Ich war nun über der Wolkendecke. Über mir was es blau, unter mir weiß.

Ich entfaltete meine Flügel soweit ich konnte und ließ mich vom Wind tragen. Mein Bauch hatte sich nun entspannt. Ich schloss die Augen, lauschte dem Pfeifen des Windes und blendete die Unruhe dort unten aus. Selbst mein Puls kam langsam runter, meine Atmung beruhigte sich.

Plötzlich preschte Nachtflug durch die Wolken, die untergehende, inzwischen dunkel orange gewordene, Sonne reflektierte seine nassen Schuppen, es blendete, ich sah ganz kurz nur Punkte. Das hatte mich so sehr erschrocken, dass ich völlig aus dem Gleichgewicht kam. Ich taumelte verwirrt herum, bis ich kraftlos, wie ein erschossener Vogel, in die Tiefe stürzte.

Ich hörte Nachtflug noch nach mir schreien. Der Wind heulte unheimlich laut und schlug gnadenlos gegen meine Ohren und meine Flügel. Ich wollte mich irgendwie in Segelstellung bringen, meinen Körper unter Kontrolle halten, aber meine Schwingen waren steif, ich hatte nicht die geringste Macht über sie.

Ich kniff geschlagen meine Augen zu und wartete auf den erlösenden Aufprall. Ich war die Schwerelosigkeit Leid, meine Pfoten verlangten nach festem Boden. Ich machte viele Dummheiten, aber das hier war mit Abstand die dümmste.
Wann kam denn endlich der Aufprall? So hoch bin ich doch gar nicht geflogen!

Auf einmal kniffen ganze vier Pranken in meine Halsbeuge. Ich wurde festgehalten, schwankte wie ein Pendel umher und riss panisch meine Augen auf.

Nachtflug hatte mich gefangen, mit aller Kraft hielt er mich fest und schlug energisch mit den Flügel. Ich zögerte nicht lange und fuchtelte hektisch mit den Flügeln, bis ich eigenständig fliegen konnte.
Nun landeten wir möglichst unauffällig wieder am Ufer.

Nach einer kurzen Verschnaufpause wollte Nachtflug von mir wissen: "Warum hast du das gemacht? Das war gefährlich!"
Ich nickte beschämt den Kopf und sah auf den Boden.
"Lass uns doch wieder zu Papa gehen, hm?", schlug mein Bruder ruhig vor. Ich schüttelte entrüstet den Kopf.

"Dann bleib hier...", schnaufte er leicht enttäuscht und ging fort. Ich beobachtete ihn noch, bis er in der Menge verschwand. Kaum war er weg, sah ich mich neugierig um. Von wegen, ich blieb hier! Interessiert schlug ich eine andere Richtung ein, drängte mich zwischen viele Nachtschatten hindurch und kam auf einmal abrupt stehen.

Mein Herz machte plötzlich einen Aussetzer, ich starrte entsetzt nach vorne, wagte mich nicht zu atmen. Vor mir stand mein alter Freund, der, der seine Familie verloren hatte. Der, der mir früher den letzten Halt gab. Und der, der mich überredete, zu meiner Familie zurück zu kehren.

Mondstaub!

Ohnezahns LebensgeschichteTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang