Eine lange Reise

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Ich war so müde, vermutlich nicht bereit diese Insel zu verlassen. Dass wir gestern trotz Muskelkater weiter geübt hatten, war vielleicht keine so gute Idee.

Schlapp lag ich da. Auf der Wiese am Rande der Klippen. Diese Vorstellung, später nur Wasser unter seinen Pfoten zu sehen, war schaurig. Die tobenden Wellen, die mich bei einem Absturz so leicht in die Tiefe drücken konnten...

In das kalte Wasser zu ertränken, die Lunge zu, kein Sauerstoff, Tod... nein - daran durfte ich jetzt nicht denken!

Mondregen's Mutter war schon lange auf, vermutlich konnte sie die ganze Nacht nicht schlafen. Allein saß sie da unten an der Küste, leckte ihre Pfote und blickte mit besorgtem Blick zum Horizont.  Sie vermisste ihren Sohn bestimmt. Ich hatte ihn ja selbst gesehen, so klein war er. Nur wenige Monate alt. Er konnte kaum sprechen, stotterte... beschrieb Gegenstände, weil er dessen Namen nicht wusste. Und dann so ein Feuer? So derartig kranke Drachenangriffe? Es grenzte an einem Wunder, dass wir diese Zeit überlebten. Für einen Schlüpfling unmöglich.

"Bist du schon lange wach?", brummte Nachtflug müde hinter mir und hievte sich hoch. Er musste gerade erst aufgewacht sein, so müde war er. Ich drehte mich zu ihm um und schüttelte den Kopf.

Er taumelte schlaftrunkend zu mir und murrte kaum hörbar: "Komm... lass uns zu ihr gehen." Daraufhin schlenderte er den Abhang entlang bis zur Küste. Ich richtete ein Ohr auf und folgte ihm.

"Schon wach?", begrüßte uns die Mutter. Kein Lächeln in ihrem Gesicht, ihre Stimme war nachdenklich und trüb. Ich sah sie prüfend an, sie spürte meinen Blick und zwang sich dann doch zu einem knappen Lächeln.

"Wann brechen wir auf?", erkundigte sich Nachtflug nun etwas wacher.
"Gleich. Wir frühstücken erstmal und machen uns etwas warm. Der Flug wird hart und anstrengend für euch werden.", warnte sie uns vor. Ich brummte mürrisch, nickte aber.

Als Aufwärmung schlugen wir einige Male mit den Flügeln und drehten sie abwechselnd in eine Richtung.
"Das müsste reichen.", beschloss unsere Trainerin und gab uns zu verstehen, aufzubrechen.

Klein machen, Körper anspannen, Flügel ausbreiten und abheben! War gar nicht mal so schwer. Schon beim ersten Flügelschlag schossen wir gute fünf, sechs Meter in die Höhe. Direkt aufs Meer hinaus. Tosende Wellen unter uns. Ganz anders als der feste Boden. Nein, das Meer sah von hier oben wie ein blaues Laken aus, dass ganz faltig und knittrig war.

Nun war es offiziell: Die letzten Nachtschatten, wir drei, verließen die ehemalige Heimat aller Nachtschatten. Die Insel war von nun an unbewohnt.

Möwen kreisten unter uns. Sogar Fische in riesigen Schwärmen konnten wir erkennen. Es war alles so verdammt klein unter uns. Ich fühlte mich riesig, ließ mich vom Wind tragen. Er wehte stark unter meinen Flügelhäuten und verhinderte, dass ich abstürzte. Nur meine hinteren Ruder, meine Schwanzflossen, taumelten noch etwas hin und her. Sie schwankten sehr stark, doch ich kam irgendwie zurecht.

Wir waren gerade mal wenige Sekunden in der Luft, doch als ich nach hinten sah, war die Insel schon sehr klein. Wir mussten wohl schnell sein.
Von uns dreien flog ich am höchsten, was Mondregen's Mutter nicht gerne sah.

"Salir, komm bitte weiter runter.", bat sie mich. Sie wollte ein Auge auf mich haben, so wie sie es bei Nachtflug hatte. Ich gehorchte und drehte meine Schwingen etwas schräg, sodass ich an Höhe verlor.

"Das ist ja überhaupt nicht anstrengend!", bemerkte Nachtflug gelassen und ließ sich entspannt gleiten.
"Warte mal ab.", brummte die Mutter, "Wenn der Wind erst kommt, werden wir unseren Spaß noch haben..."

Ich schluckte nervös und sah unsicher aufs Meer. Das Wasser war relativ ruhig, es war noch nicht windig. Und Nachtflug hatte recht. Bis jetzt konnte man super im Wind gleiten, sich tragen lassen und die Muskeln in den Flügeln viel Arbeit abnehmen.

Ohnezahns LebensgeschichteWhere stories live. Discover now