» Kapitel 1 «

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Ich wartete seit einer knappen Viertelstunde. Und es dauerte noch einmal zehn Minuten, bis seine Gestalt sich endlich aus der Dunkelheit schälte und er groß und breitschultrig vor mir zum Stehen kam. In einem Abstand, der mich stutzig machte. Normalerweise konnte er mir nicht nah genug kommen.

Seine blauen Augen leuchteten im Licht der Straßenlaterne seltsam leblos. Stumpf. Ich kannte diesen Ausdruck nicht. Und er machte mir, um ehrlich zu sein, Angst. Große Angst.

»Connor?«, fragte ich unsicher und suchte seinen Blick, doch er wich mir absichtlich aus. Schaute überallhin, nur nicht zu mir. Als würde er etwas vor mir verbergen. Und von Sekunde zu Sekunde verfestigte sich jene Vorstellung in meinen Gedanken. Er machte tatsächlich einen beunruhigenden Eindruck. Und mein Instinkt täuschte mich nicht.

»Es ist vorbei, Olivia«, sagte er mit leiser, ja, beinahe schon gebrochener Stimme, während er einen Schritt zurücktrat und jemandem hinter mir ein Zeichen machte. Ich erkannte meinen Fehler zu spät und stürmte erst los, als sich bereits eine Hand wie eine stählerne Handschelle um mein Handgelenk schloss. Ich versuchte vergeblich, mich loszureißen und trat wie von Sinnen um mich, um meinem Angreifer zu entkommen, doch er war zu stark. Auf seinem Unterarm erblickte ich in meiner wachsenden Panik das Symbol des Königs.

Ein Soldat der königlichen Wache. Beinahe hätte ich vor Wut aufgeschrien. Wie hatte ich mich bloß so täuschen lassen können? Connors Verrat schmerzte mehr, als der unerbittliche Griff der Wache. Tränen traten mir in die Augen, als ich nach Antworten suchend in Connors Augen blicken wollte. Doch er sah mich nach wie vor nicht an, sprach nur in brüsken Befehlen, die ich kaum nachvollziehen konnte, worauf der Soldat mich davonzerrte. Weg von Connor, weg von unserem geheimen Treffpunkt, den ich in den vergangenen Wochen so häufig aufgesucht hatte und weg von allem, was mir je etwas bedeutet hatte.

»Du Dreckschwein!«, brüllte ich und spuckte in die Richtung, in der ich meinen vermeintlichen Geliebten vermutete. Der Tränenschleier beeinträchtigte meine Wahrnehmung erheblich. »Ich hoffe, du schmorst in der Hölle, du elender, räudiger Hund!«

Die Wache hinderte mich am weiteren Ausstoß unflätiger Flüche, indem er mir mit seinem Handrücken hart ins Gesicht schlug. Meine Unterlippe platzte auf und begann zu bluten.

Im ungnädigen Zustand der Trostlosigkeit, der mich zu übermannen drohte, stolperte ich über eine Unebenheit in dem Pflasterstein und schrie vor Schmerz auf, als der Soldat mich kraftvoll am Arm wieder hochriss. Meine Schulter pochte im Rhythmus meines rasenden Herzens und überschattete alles andere. Ich war mir beinahe sicher, dass er mir den Arm ausgekugelt hatte, brachte aber nichts, als ein klägliches Wimmern über meine aufgesprungenen Lippen.

»Bewege dich gefälligst!«, befahl er schließlich aufgebracht und schnaubte. »Sonst werde ich dir Beine machen.«

Wie das aussehen sollte, wollte ich gar nicht erfahren, also hörte ich auf seine Drohung und beschleunigte meine Schritte. Ich wusste nicht, wo man solche wie mich hinbrachte, aber es war mit Sicherheit kein schöner Ort. Als meine langjährige Freundin auf eine ähnliche Weise vom Erdboden verschwunden war, hatte ich sie niemals wieder zu Gesicht bekommen. Ich spürte, dass es vorbei war. Und das nur, weil ich mich in einen attraktiven Bastard verliebt hatte, der mein Vertrauen ausgenutzt und mich verraten hatte. Und wofür?

»Was bekommt Connor dafür?«, wagte ich einen Vorstoß ins Ungewisse. Vielleicht würde der Soldat aus Mitleid antworten. Oder zumindest ausfällig werden. Mir irgendwelche Anhaltspunkte gewähren.

Und tatsächlich - die Wache zeigte sich redselig. Seine Stimme triefte vor Spott und Gehässigkeit, aber zumindest sprach er mit mir. Worauf ich es, rückwirkend betrachtet, nicht hätte anlegen sollen. »Was er dafür bekommt?« Sein Lachen schallte über die verlassenen Straßen. »Es war seine Mission, dich zu enttarnen. Das hat er gut gemacht, nicht wahr?« Wieder brachte er seine Schadenfreude zum Ausdruck. »Falls du dich fragen solltest, ob er mit jeder seiner Missionen ins Bett geht... Ja, das tut er. Also fühle dich nicht besonders, denn das bist du nicht. Du, du widerliche...« Er verzog sein Gesicht zu einer albtraumhaften Fratze, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. »Kreatur

Meine Knie drohten nun endgültig, unter mir nachzugeben. Bis zum jetzigen Moment hatte ich gehofft, Connor hätte es aufgrund der Belohnung getan, aufgrund des Kopfgelds, das der König aussetzte. Er hatte oft wiederholt, dass seine Familie hoch verschuldet war. Aber offenbar war alles, unsere Beziehung, die für ihn niemals von Bedeutung gewesen war, unsere heimlichen Küsse in dunklen Nischen, unsere geflüsterten Liebesbekenntnisse in seinem Zimmer, nichts weiter als eine Farce gewesen. Die Möglichkeit, mich auf die effektivste Weise zu entlarven. Er hatte es von langer Hand geplant, mir nahe zukommen. Unsere zufällige Begegnung am Fluss war keine zufällige Begegnung gewesen. Völlig ausgelaugt schloss ich meine Augen und atmete tief durch. Es fühlte sich an, als hätte Connor mir die Klinge eines Dolches ins Herz gestoßen und sie ein paar Mal hämisch um ihre Achse gedreht.

Plötzlich, als die Wache mich über den Marktplatz der Stadt zog, stieg mir der altbekannte, ekelerregende Geruch nach verbranntem Fleisch in die Nase. Unweigerlich glitt mein Blick zu dem Scheiterhaufen, der von verkohlten Gestalten, die einmal atmende, lebende Menschen gewesen waren, übersät war. Der Gestank würde sich noch einige Zeit halten, das wusste ich. Das war schon des Öfteren so gewesen.

Der Soldat interpretierte meinen Blick richtig und lachte wieder gehässig auf: »Höchstwahrscheinlich wirst du dich im Laufe dieser Woche zu diesen armen Schweinen dort oben gesellen. Hört sich spaßig an, oder nicht?« Er holte tief Luft, wahrscheinlich, weil auch ihm der Geruch zusetzte, er es sich aber nicht anmerken lassen wollte.

Es dauerte eine Weile, bis seine Eröffnung in meinen Geist vordrang. Ich? Auf einem Scheiterhaufen zum Tode verurteilt?

Aus dem Augenwinkel nahm ich einen zusammengekrümmten, dreckverkrusteten Menschen wahr, der bewegungslos am Fuße des Podests in seinem eigenen Erbrochenem lag. Er schien das Bewusstsein verloren zu haben und reagierte nicht auf das wütende Bellen von Befehlen, die der Soldat ihm zurief. Schließlich gab er es auf und zerrte mich einfach in die Hauptstraße, die ebenso verlassen dalag, wie jeder andere Ort um diese Zeit. Abgesehen von der halbtoten Gestalt, die wir eben hinter uns gelassen hatten.

Irgendetwas an dieser Szene hatte mich seltsam berührt, mich für ein paar Augenblicke meine missliche Lage vergessen lassen. Warum lag er dort? Hatte er jemanden verloren? Gehörte er zu jemandem, der hingerichtet wurde? War er deswegen vor dem Scheiterhaufen zusammengebrochen? Keine dieser Überlegungen half mir weiter, aber sie lenkten mich ab. Und Ablenkung war rar, wenn man gerade in Gewahrsam genommen wurde. Das würde ich früher erfahren, als mir lieb war.

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now