Kapitel 60

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Für den Bruchteil einer Sekunde war ich mir sicher, er würde mich von sich stoßen, wie er es schon in der Vergangenheit zur Genüge getan hatte, und wortlos ins Lager zurückgehen. Umso schockierter war ich, als er seinen Mund öffnete und zu reden begann. Langsam und leise, als würde es ihn große Überwindung kosten, aber er redete. Ich wagte kaum zu atmen, aus Angst, ihn damit versehentlich zu unterbrechen.

»Einst hatte mein Vater Pferde für den König gezüchtet«, sagte er nun mit trauriger Stimme. »Wunderschöne, kräftige Tiere, die widerstandsfähiger nicht hätten sein können. Speziell ausgebildet für die Offiziere und einzelnen Soldaten. Schlachtrösser, wie es sie niemals zuvor in Ashbrook gegeben hatte. Er verdiente viel Geld mit ihnen.« Ich legte meine Wange an seine Brust und lauschte dem Schlagen seines Herzens. Und seinen Worten. »Meine Eltern lebten zu der Zeit beide in Ashbrook, in unmittelbarer Nähe des Schlosses. Das lag einerseits daran, dass meine Mutter mit Connors befreundet war. Die Frauen hatten sich bei einem Bankett kennengelernt – meine Familie verkehrte damals trotz einst niederer Herkunft in adliger Gesellschaft – und wurden unzertrennlich. Andererseits aber wollte mein Vater sie in Sicherheit wissen, weil sie gerade schwanger war. Mit mir. Und wo könnte es sicherer sein, als in Ashbrook? Meine Familie hatte zur damaligen Zeit große Probleme mit Banditen. Es gab immer wieder Einbrüche, sodass mein Vater beschloss, in die Hauptstadt umzuziehen. Die Freundschaft mit Connors Mutter war also eher zweitrangig, aber dennoch wichtig. Sie war sogar bei meiner Geburt an ihrer Seite gewesen, weil mein Vater geschäftlich unterwegs war und nach den Pferden hatte sehen müssen. Ich war eine Frühgeburt und niemand hatte mich erwartet. Und ich wäre fast erstickt, das hat mir meine Mutter entsetzt erzählt, aber Connors Mutter schaffte es, mich mithilfe irgendwelcher Kräuter zu retten.« Er hielt kurz inner und fuhr dann fort: »Es waren verbotene Kräuter. Außerdem hatte sie Magie angewendet. Ich weiß nicht, welcher Art diese Magie war aber ich weiß, dass sie sie beherrschte und mir damit das Leben rettete.«

Ich sog scharf die Luft ein. Wenn das stimmte, wenn Connors Mutter sich wahrhaftig an Magie bedient hatte, obwohl sie seit Jahren in Ashbrook verboten war... Nicht auszudenken, was dabei hätte alles schiefgehen können. Und vermutlich war es das auch. Schließlich war Connors Mutter nicht mehr am Leben. Und sein Vater ebenso wenig.

»Taron war damals schon an der Macht, mit nur vierundzwanzig Jahren. Seiner und Emilias – so hieß sie nämlich – Vater war an einer Krankheit verstorben, nach nur neun Jahren Regentschaft. Damit legte er seinem jungen, recht unerfahrenen Sohn das Zepter in den Schoß. Und dieser war ganz wild darauf, das Werk seines Vaters zu seiner Zufriedenheit fortzusetzen. Anfangs war er gar nicht so tyrannisch und selbstherrlich. Ich schätze, er wurde von seinen Beratern zu dem gemacht, was er heute ist. Es ist ein offenes Geheimnis, das er sich leicht manipulieren lässt und mittlerweile ist es hauptsächlich der Offizier, der das Sagen hat. Dem König fehlt das strategische Denken, um zu erreichen, was er sich vorgenommen hat, dem Offizier nicht.«

Das war mir auch schon aufgefallen, als ich mich noch in der Obhut des Offiziers befunden hatte. Er war ein gut aussehender Mann in seinen besten Jahren, also etwa im Alter des Königs, und hatte einen scharfen Blick, der von seiner Brillanz und Intelligenz zeugte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er den König dazu nutzte, seine Pläne für Ashbrook umzusetzen und seine Macht auf den ganzen Kontinent auszudehnen. Konnte das sein Plan sein? Westenraa und all die anderen Länder zu erobern? Hatte er dafür meine Magie benötigt? Als Versuch, sozusagen? Wenn seine Pläne funktioniert hätten und ich nicht geflohen wäre, so hätte er den König womöglich dazu gebracht, die Magie nicht länger zu verschmähen und zu seinen Zwecken zu missbrauchen. Um einen Krieg zu gewinnen, den er von langer Hand plante. Ich erschauderte.

»Was ist?«, murmelte Jeremia in mein Haar. Sein Atem streichelte mein Ohr. Ich schüttelte bloß den Kopf und bedeutete ihm, weiterzureden. Ich musste mir das, was ich herausgefunden zu haben schien, zunächst in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und überhaupt erst beweisen, dass ich mit meiner Annahme richtig lag. Ansonsten würde ich nur für Panik sorgen.

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now