» Kapitel 15 «

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Schon in dem kleinen Dorf, in der Nähe von Ashbrook, in dem ich aufgewachsen war, hatte ich Sommerabende geliebt. Vor allem dann, wenn die Temperaturen im Laufe des Tages völlig unerträglich waren, des Abends jedoch abkühlten. Bree und ich hatten uns zu dieser Tageszeit des öfteren getroffen - das war noch in der Zeit vor der Ausgangssperre gewesen -, um unter dem Birnenbaum im Garten ihres Vormundes, einer freundlichen alten Dame, im Rasen zu sitzen und den frischen, duftenden Wind auf unseren Gesichtern zu genießen. Eine solche Beschäftigung mochte den adligen Kindern als langweilig oder gar öde erscheinen, für uns, arme Dorfkinder, war es der Himmel auf Erden.

Manchmal, wenn es bereits dunkel wurde, kam Brees Vormund aus dem Haus und bot uns beiden Früchte an, vorzugsweise Birnen, und setzte sich zu uns ins Gras. Meistens flehten wir sie dann an, uns eine Geschichte zu erzählen, und das tat sie auch. Die alte Dame war eine begnadete Erzählerin, sodass es uns, ihrem begeisterten Publikum, indessen sehr leicht fiel, in ein anderes, märchenhaftes Land einzutauchen und Abenteuer zu erleben, bis sie ihre Erzählung beendete.

Bis heute war ich der festen Überzeugung, dass es sich dabei um die schönste Zeit meines Lebens handelte.

Während ich der Tyrannin durch den Schlossgarten an unzähligen Skulpturen und Blumenarrangements vorbei folgte, dachte ich an längst Vergangenes und stellte fest, dass der heutige Abend den damaligen Abenden in vielerlei Hinsicht glich. Die Temperatur war angenehm, die Sonne ging allmählich im Westen unter und ein frischer Wind wehte durch den Park und flüsterte in den Bäumen. Der weiße Kies knirschte unter meinen Stiefeln und das melodische Gezwitscher der Vögel erfüllte die duftende Luft.

Wir passierten den Eingang zum Labyrinth - die Adligen spielten darin oftmals Verstecken, was ich beim besten Willen nicht nachvollziehen konnte -, das unheilvolle Schatten auf den Boden warf, und gingen weiter. Die Größe der Anlage erfüllte mich noch immer mit Erstaunen, ebenso ihre prachtvolle Schönheit.

Und dann erschien eine aus weißem Marmor erbaute Gartenlaube vor der Tyrannin und mir. Die Überdachung stützte sich auf fünf massiven Säulen, um die sich auf dekorative Weise Rosen rankten, und in deren Oberfläche fantasievolle Muster eingraviert waren.

Ich ging bis an den bewachten Eingang, zu dem drei winzige Treppenstufen führten, und blieb reglos davor stehen. Wieder musste ich warten, bis der König gnädig genug war, mich hereinzubitten und mich dann vor ihm verbeugen.

Diesmal war er ungeduldig und bat mich umgehend, am Tisch Platz zu nehmen und von den Leckereien zu kosten.

Der Form halber nahm ich mir eine Birne, darüber lächelnd, dass ich vor wenigen Minuten an diese Frucht gedacht hatte, und biss genüsslich hinein. Sie war überaus saftig und schmackhaft und zerging mir förmlich auf der Zunge. Für einige Augenblicke war ich wieder ein kleines Mädchen, das mit seiner Freundin unter einem großen Birnenbaum saß und den Geschichten einer alten Frau lauschte. Dann holte mich die Realität wieder ein.

»Hast du eine besondere Vorliebe für Birnen?«, erkundigte sich der König.

Ich zuckte die Schultern: »Es ist eine Frucht wie jede andere auch.«

»Eine sehr unbefriedigende Einstellung«, kommentierte er missbilligend, als würde ihm der Fakt, ich könne mir keine eigene Meinung bilden, nicht gefallen.

»In meinem Dorf hat es keine Nahrungsvielfalt gegeben, Eure Majestät«, sagte ich höflich, stets darauf bedacht, ihn nicht zu verärgern, obwohl meine Äußerung eigentlich darauf abzielte, ihm seinen Geiz vor Augen zu führen. Doch er ignorierte jedwede Spitze, falls er sie überhaupt bemerkt hatte und steckte sich eine Stachelbeere in den Mund.

Er kaute eine Weile, worauf er seine Gleichgültigkeit zum Ausdruck brachte: »Stimmt. Du stammst ja aus einer der kleinen Dörfer hinter Ashbrook.«

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now