Kapitel 59

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Nachdem wir Marten behelfsmäßig beerdigt und die Seherin ein Gebet gesprochen hatte, brachen wir auf. An Schlaf war nicht zu denken, als wir unsere Pferde sattelten und die Reise nach Dashwood fortsetzten. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis wir die Hauptstadt erreichen würden, das hatte mir Raymond im Flüsterton mitgeteilt. Niemand wagte es, die Stille mit irgendwelchen Nichtigkeiten auszukleiden, alle schwiegen und hingen ihren Gedanken nach.

Das war eine Kostprobe gewesen, dachte ich niedergeschlagen. Eine Kostprobe des Krieges, für den ich mich so vehement einsetzte. Wie würde es erst sein, wenn ich Reihenweise Männer ermordete? Männer mit Familien, Männer, deren Absichten nicht unbedingt böse waren, Männer, die ihrem tyrannischen König aus Loyalität dienten, Männer, die ihre Heimat beschützen wollten... Es machte mich schier wahnsinnig, an all die unschuldigen Menschen zu denken, die zwischen die Fronten geraten würden. Ganz egal, was ich tat, Tote würde es unweigerlich geben und wenn unsere Armeen denen des Königs von Ashbrook auf dem Schlachtfeld gegenüber stehen würden, würde es keine Möglichkeit mehr geben, das Blutvergießen aufzuhalten und Leben zu retten.

Geschafft schloss ich meine Augen und umfasste Kates Zügel fester.

Ich hatte keine Wahl. Ashbrook hatte keine Wahl.

*

»Ich werde nach Wiesenthal zurückreiten«, sagte Cyryl, als wir an diesem Abend unser provisorisches Lager aufschlugen. Diesmal allerdings auf keiner Lichtung, wo man uns nur allzu hätte aufspüren können, sondern an einer dicht bewaldeten Stelle, die es erforderlich machte, dass wir eng zusammenrückten. Wir waren todmüde und völlig überanstrengt. Meine Muskeln brannten wie Feuer und der Verlust unseres Freunde ebenfalls. Ich wusste, dass es nicht gut um Cyryls psychische Verfassung stand. Aber damit, dass er das sagen würde, hatte wohl niemand von uns gerechnet.

Jeremia, der zu meiner Linken saß, richtete sich im Sitzen auf und schüttelte überzeugt den Kopf. »Nein, Cyryl, das...das geht nicht. Du kannst jetzt nicht zurück, das wäre zu gefährlich. Da draußen sind noch fünf weitere Männer wie die, die-«, er brachte es nicht über sich, auszusprechen, was wir alle wussten, auszusprechen, dass einer von ihnen einem der unsrigen, einem Verbündeten und Freund, das Genick gebrochen hatte, als wäre er nicht viel mehr gewesen, als ein lästiges Insekt.

»Jeremia«, sagte Cyryl leise. In seiner Stimme klang eine solche Verzweiflung mit, dass sich mir der Magen umdrehte. In seinem Gesicht lag so viel Schmerz, so viel Trauer. Ich hatte einen solchen Ausdruck noch nie in meinem Leben in den Zügen eines Menschen gesehen. »Ich habe meinen Bruder verloren.« Ich wusste, dass Marten und Cyryl nicht verwandt waren und hörte gerührt zu. »Als ich ihn damals in dem Kinderhaus kennenlernte, war ich ein dummer, störrischer und vor allen Dingen verängstigter Junge gewesen. Er war es, der sich meiner annahm und mich aus meiner Welt des Hasses und der Verbitterung wieder in die Realität zurückholte. Ohne ihn...bin ich nicht.«

»Du hast doch nicht etwa vor, dir etwas anzutun, oder?«, warf Raymond energisch ein. Das Entsetzen hatte sich tief in seine Züge gegraben. »Das kannst du nicht machen, das würde Marten nicht wollen.«

Bei der Erwähnung seines Namens verzog Cyryl das Gesicht. Raymond schaute ihn entschuldigend an. Die Wunde war zu tief und zu frisch, um zu verheilen, es würde Monate, ja, vielleicht sogar Jahre dauern, bis der Schmerz verklang. So wichtig war Marten ihm gewesen. Doch davon, sich umzubringen, schien Cyryl nicht zu reden. Er widersprach sogar kopfschüttelnd. »Nein, das meinte ich nicht«, erklärte er und seufzte auf. »Dazu würde mir der Mut fehlen, selbst wenn ich es tun wollte. Was nicht der Fall ist, nein.« Wieder ein leichtes Kopfschütteln. »Ich will bloß zurück nach Wiesenthal, zurück zu den Sonnenanbeterinnen, deren Training ich mich wieder widmen werde, zurück zu meinen alltäglichen Aufgaben. Ich möchte mich in die Arbeit stürzen und vergessen. Wenigstens für ein paar Stunden. Außerdem brauche ich Zeit für mich. Zeit, in der ich auf angemessene Weise um meinen gefallenen Bruder trauern und sein Andenken bewahren kann. Bitte, Jeremia. Lass mich gehen.« Der Blick, den er Jeremia bei diesen Worten zuwarf, hätte wahrscheinlich Stein schmelzen können.

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now