Kapitel 67

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Als Jeremia und ich durch eine weitere Eistür in Brees Zimmer gelangten, war es die Seherin, die ich zuerst sah. Sie saß mit an die Brust gezogenen Beinen auf einem weißen Stuhl und starrte blicklos aus dem Fenster. Ihre grauen Augen waren noch verschleierter als sonst. Sie war noch immer wunderschön, das war es nicht, doch ihre schmalen Schultern schienen von einer Last niedergedrückt zu werden, die außer ihr niemand sehen konnte. Sie war ganz offensichtlich über alle Maßen besorgt.

Ich ließ meinen Blick durch den karg eingerichteten Raum schweifen, bevor ich mich dazu durchringen konnte, meine ehemalige Freundin anzusehen. Ein kläglicher Laut entschlüpfte meinen Lippen, als ich ihr Gesicht erblickte. Sie sah wirklich nicht gut aus. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißtropfen, ihre Lippen waren rissig und standen leicht offen, und ihre Wangen so blass, dass sie mich an einen Geist erinnerte.

Mit nur drei Schritten war ich an ihrem Bett und fasste nach ihrer kleinen Hand. Sie fühlte sich kalt an.

»Lasst mich mit ihr allein«, sagte ich zu Jeremia und der Seherin. »Bitte.« Ich wusste nicht genau, warum es mich plötzlich danach verlangte, unter vier Augen mit der ruhenden Bree zu sein, doch als sie ihre Lider aufschlug und mir geradewegs in die Augen sah, vergaß ich jeglichen Zweifel und wiederholte meine Forderung.

Jeremia leistete Folge.

Die Seherin dagegen sträubte sich.

»Kommt schon«, sagte Jeremia ungeduldig, ergriff ihren Arm und zog sie auf die Füße.
»Ihr werdet doch zwei guten Freundinnen ein wenig Zeit für einander einräumen können.«

»Sie sind keine Freundinnen mehr!«, rief die Seherin erbost und entzog Jeremia ihren Arm. »Bree weiß nichts mehr über ihre gemeinsame Vergangenheit. Wenn Alexandra ihr etwas sagen möchte, kann sie das genauso gut vor mir tun.«

»Was ist Euer Problem?«, fragte ich mit trügerischer Ruhe in der Stimme und drehte den Kopf, um die tobende Frau anzusehen, die für eine Seherin, eines dieser altehrwürdigen Geschöpfe, ziemlich derangiert aussah. Die Wut verzerrte ihre ätherischen Züge und machte mir mehr als deutlich, dass die Seherin durchaus Emotionen empfand. Sie hatte also gelogen. Nun wollte ich sie umso mehr für ein paar Augenblicke loswerden.

»Ich habe kein Problem.«

»Nein?«

»Ich sehe schlicht und ergreifend keinen Grund für ein Einzelgespräch, das bloß an Brees und deinen Nerven zehren wird.«

Glaubt ihr nicht.

»Danke für Eure Fürsorge, ich weiß sie sehr zu schätzen. Doch ich möchte jetzt mit Bree allein sein. Bitte

Verschwindet, Heuchlerin, dachte ich.

Sie war drauf und dran, mir an die Gurgel zu gehen, so zumindest wirkte sie auf mich, als ich meine Bitte ein weiteres Mal äußerte und Jeremia sie wieder am Arm packte, um sie aus dem Zimmer zu schaffen. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, als die Seherin schließlich wutentbrannt nachgab und mir eine halbe Stunde zugestand.

Ich achtete nicht auf ihr Gezeter und wartete ungeduldig darauf, dass ihre Stimme verstummte. Als dem so war, drückte ich Brees schmale Hand noch fester und wartete darauf, dass sie wieder ihre Augen öffnete. Seit der Begegnung mit dem weißen Raubtier, nach dem ich den Eiskönig zu fragen vergessen hatte, hatte sich an Bree etwas verändert. Ich spürte es und würde herausfinden, ob sie wirklich so unwissend und unbeteiligt war, wie ihre Mentorin, die mir immer verdächtiger vorkam, stets behauptete.

»Sie hat Unrecht«, flüsterte Bree schließlich kaum hörbar. Ich beugte mich zu ihr herunter, um sie besser verstehen zu können.

»Womit, Bree? Womit hat die Seherin Unrecht?«, fragte ich. Mein Mund war so trocken geworden, dass meine Zunge an meinem Zahnfleisch zu scheuern schien. Bree war in all der Zeit so abwesend gewesen, dass ich jegliche Hoffnungen auf ein Wiederaufleben unserer Freundschaft fast schon begraben hatte. Und nun redete sie mit mir.

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now