Kapitel 55

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Ich spürte noch immer Amaniels Lippen auf den meinen, als er schon längst verschwunden war und an seiner statt Jeremia in meinem Zimmer stand und ganz offensichtlich mit sich rang. Vermutlich versuchte er sich wieder einmal einzureden, dass es ihm egal sein konnte, was ich mit wem tat, da er mich ja ohnehin nicht wollte, weil er nicht über Margarets Tod hinweg kam und dies auch nicht vorhatte.

Aber seine Augen sprachen eine andere Sprache.

»Was möchtest du?«, fragte ich schließlich.

»Wo warst du den ganzen Tag lang?«, fragte er zurück, ohne auf meine Frage einzugehen.

Ich runzelte die Stirn und zuckte die Schultern. »Ich habe mir Westenraa angesehen.«

»Allein?«

»Nein, nicht allein.« Mehr brauchte ich nicht zu sagen.

Jeremia nickte. »Gut. Tut mir leid. Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich dich nicht in deinem Zimmer gefunden habe. Du hättest doch wenigstens Bescheid sagen können.«

Ich wollte hitzig erwidern, dass ich ihm keine Rechenschaft schuldig war, einfach nur, um ihn zu verletzen, weil er sich gegen mich entschieden hatte aber ich brachte es nicht über mich und lenkte bloß ein. »Ja, du hast recht, verzeih. Ich habe nicht nachgedacht.«

»Schon in Ordnung.«

Ich ging zum Fensterbrett und nahm mir eine Orange. Begann damit, sie zu schälen und bot Jeremia auch eine an. Er lächelte nur leicht und meinte, er habe schon unzählige verspeist. Vermutlich gab es in seinem Zimmer auch welche. Ich aß sie schweigend.

»Die Situation zwischen uns ist seit dem Kuss sehr angespannt«, sagte er plötzlich.

Überrascht starrte ich ihn an. Dass er darauf zu sprechen kommen würde, hätte ich niemals erwartet.

»Ich wollte nicht, dass es so kommt, Alexandra. Ich habe Angst. Verstehst du?«

»Angst?«, presste ich ungläubig hervor. »Du hast vor nichts Angst.« Der Jeremia, den ich kannte, empfand so etwas wie Furcht nicht. Die war ihm genommen worden, als er seine Verlobte verbrennen sah. So zumindest war mein Eindruck.

Jeremia seufzte schwer und ließ sich auf mein noch immer gemachtes Bett fallen. Die Matratze gab unter seinem Gewicht nach und eines der Kissen fiel vom Bett. Jetzt wirkte der wunderschöne Baldachin irgendwie fehl am Platz, nun, wo Jeremia sich wieder einmal öffnete, war er viel zu verspielt, viel zu grell. Ich blickte mein Gegenüber abwartend an.

Wann immer er sprach, war meine Neugier geweckt. So war es schon seit ich ihn kannte.

»Doch, Alexandra, ich habe Angst«, flüsterte er. Er schaute mir in die Augen, so unglaublich tief, dass ich den Faden verlor. Mein Herz setzte für einen Moment aus. Ich war wie erstarrt. »Ich habe Angst davor, dich zu lieben. So entsetzliche Angst.«

»Wieso?« Ein kaum hörbares Hauchen, mehr nicht. Was er gesagt hatte, hatte mich in meinen Grundfesten erschüttert und es führte kein Weg mehr zurück. Es stand im Raum, unwiderruflich.

»Weil ich schon eine Frau verloren habe und es nicht ertragen würde, dich auch noch zu verlieren.« Er wirkte so verletzlich, so zerstört, dass mein Herz vor Mitgefühl beinahe überquoll. Ich stieß mich von dem Fensterbrett ab und ging vor ihm auf die Knie. Dann nahm ich seine Hände und verschränkte unsere Finger miteinander. Er senkte den Kopf.

»Wird es denn leichter, wenn du mich von dir stößt, Jeremia? Würde es dann weniger wehtun, mich zu verlieren?«, redete ich ihm ins Gewissen. Ich würde seine Entscheidung akzeptieren, ganz gleich wie sie auch ausfallen mochte aber ich würde ihm meine Sicht der Dinge zunächst einmal mitteilen. Er musste wissen, was es mit mir machte, auf Distanz bleiben zu müssen. Dass es mich innerlich zerriss.

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now