Kapitel 70

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Es war früher Morgen. Der Himmel über Rushworth war von einem klaren Blau, das das viele Eis des Schlosses in einem kalten Glanz erstrahlen ließ und der Boden von einer dünnen Schneeschicht überdeckt.

Der Schlossgarten ähnelte dem des Königs von Ashbrook, doch anstatt, dass bunte Blumen und andere Pflanzen aus der Erde sprossen, waren hier diverse Eisskulpturen, jede ein einzigartiges Meisterwerk, auf höchst kunstvolle Weise arrangiert. Alles wirkte so durch und durch ruhig, dass ich es nicht wagte, mich an Jeremia zu wenden, der an meiner Seite schritt und ebenfalls staunend den Blick über den geräumigen Garten gleiten ließ. Nur unsere knirschenden Schritte störten den absoluten Frieden, der von diesem Ort ausging.

Inmitten all der Skulpturen thronte ein
riesiger Springbrunnen, der ganz eindeutig dem ersten Eiskönig von Rushworth gewidmet war. Ich wusste nicht viel über die Geschichte dieses Landes, nein, ich wusste so gut wie nichts darüber, doch die kleine Steintafel, die an der Seite des Springbrunnens, der ebenso wie die Tafel nicht aus Eis, sondern aus Stein bestand, angebracht war, verriet mir, dass er Ceddrick Efnisien Tyree Candavene geheißen und dafür gesorgt hatte, dass Rushworth sich von den anderen dreien Ländern unabhängig gemacht hatte.

Was er wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass einer seiner Nachkommen einer Sonnenanbeterin – dem Gegenteil von Schnee und Eis – versprochen hatte, mit ihr und ihren Verbündeten in den Krieg gegen einen fremden König zu ziehen, der sich mithilfe Dunkler Magie zum Herrscher über den Kontinent, vielleicht sogar über die ganze Welt, machen wollte. Er würde sich vermutlich im Grab umdrehen und seinem Nachfolger raten, sich aus der ganzen Sache herauszuhalten. Schließlich sagte niemand, dass Taron sich auch Rushworth unter den Nagel reißen würde. Hier lebten magiebegabte Geschöpfe, vielleicht würde er versuchen, sich mit Kaelan Learoy Alaric Candavene zu verbünden. Und gegen zwei so unglaublich mächtige Könige, die beide über enorme Kräfte verfügten, hätte kein anderes Land eine Chance. Umso erleichterer war ich, den Eiskönig auf unserer Seite zu wissen.

Ich umfasste Jeremias Arm etwas fester, als der Wind auffrischte und seine beißende Kälte förmlich in meine Knochen fuhr. Die Zofe hatte mir einen dicken Mantel gebracht, den ich dankend angenommen hatte, weil mein gestohlener nach meiner Auseinandersetzung mit der Lawine nur noch aus Fetzen bestand und ohnehin viel zu dünn gewesen war, in den ich mich nun Wärme suchend schmiegte. Doch mir war dennoch eiskalt. Jeremia zog mich näher an sich heran und deutete dann mit dem Kinn in die Höhe. Ich folgte seinem Blick und konnte mich nicht an Kaelans Eispalast sattsehen.

Er war mindestens genauso beeindruckend wie der des König von Westenraa und sah ihm in gewisser Hinsicht sogar ähnlich.

Hohe, in den Himmel ragende Türme - Dutzende davon -, die das gleißende Licht der Morgensonne wie Kristalle reflektierten und großen Eindruck auf den Betrachter schindeten. Jeremia und ich befanden uns nur an der Hinterseite, im Schlossgarten, weshalb ich mich unwillkürlich fragte, wie die Baut erst aussehen musste, wenn man sie von einem der Berge, die die Stadt umgaben wie massive schnee- und kiefernbedeckte Wächter, aus sehen würde. Ich hoffte, ich würde einmal in den Genuss einer solchen Aussicht kommen und die gesamte Eisstadt mit nur einem Blick erfassen können. Aber für den Augenblick waren wir mit weit Wichtigerem beschäftigt.

»Meinst du wirklich, der Eiskönig duldet mich in seiner Gegenwart?«, erkundigte Jeremia sich leise. Ich hatte ihm gestern alles erzählt, auch, dass der Eiskönig mich in meinem Zimmer besucht und mir verboten hatte, meinen Gefährten davon zu erzählen. Ich hatte also seinen Befehl missachtet, doch ich hatte nicht anders gekonnt.

Nachdem ich Jeremia gestern meine Gefühle gestanden hatte, war es eine unüberlegte, von unserem Liebesakt befeuerte, Handlungen gewesen. Und doch hatte er keine Sekunde gezögert und meine Liebeserklärung voller Inbrunst erwidert. Seitdem hatte sich etwas Grundlegendes zwischen uns geändert, denn seine Schuldgefühle Margaret gegenüber waren im Angesicht unserer Gefühle verblasst. Er war glücklich, genau wie ich. Wie hatten es überstanden und zu uns gefunden, all den Lasten der Vergangenheit zum Trotz. Und deswegen hatte ich beschlossen, ihn in die Angelegenheit mit dem Eiskönig einzuweihen, der just in dem Moment hinter einer Skulptur hervortrat, die Augen ein tiefblaues Meer voller glühender goldener Sprenkel.

BORN TO BURN (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt