Kapitel 65

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Nicht einmal meine Magie wäre schnell genug gewesen, um den tödlichen Hieb der krallenbewehrten Tatze des schneeweißen Raubtiers aufzuhalten. Ich konnte nur noch spitz aufschreien, als sie auch schon auf den filigranen Hals der jungen Seherin herabsauste, bereit dazu, Haut aufzureißen und Blut zu vergießen, doch... Das Raubtier hielt im letzten Moment inne und streifte bloß Brees blasse Wange, aus der sofort rubinrotes Blut schoss und in dünnen Rinnsalen ihr Kinn hinablief. Sie zitterte am ganzen Körper, als die Bestie sie überraschenderweise freigab, zurücktrat und den massiven Kopf zur Seite neigte.

Obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, was hier eben geschehen war, stieg ich aus Kates Sattel und stürzte zu Bree, die sich aufgesetzt hatte und das schöne Raubtier aus weit aufgerissenen Augen ansah. Als würde eine Art Kommunikation zwischen ihnen stattfinden, ging es mir durch den Kopf.

»Geht es dir...geht es dir gut?«, keuchte ich besorgt und unterzog die Verletzungen, die die Krallen der Bestie hinterlassen hatten, einer genauen Musterung. Sie waren nicht allzu tief, doch aufgrund einer möglichen Infektion war es mir ein Anliegen, sie schnellstmöglich zu heilen.

»Nein, lass nur«, meldete Bree sich zu Wort, als sie begriff, was ich tun wollte. »Es ist schon in Ordnung.« Ihre Stimme klang weniger abwesend, als sie es sonst immer tat, was mich unvorbereitet erwischte. War sie doch noch da? Meine Bree?

»Sicher?«, hakte ich eilig nach. »Ich kann dich ganz schnell-«

»Nein, das ist nicht nötig.«

»Natürlich, wie du möchtest.« Damit zog ich mich zurück, denn ich wollte ihr nicht zu nahe treten. Als ich mich umdrehte, war Jeremia unversehens an meine Seite getreten und richtete sein Schwert drohend auf das Raubtier, das - die Ruhe selbst - auf seinem Hintern saß und seine Tatze leckte. Brees Blut von seinen Krallen leckte. Wut stieg in mir auf.

Es hätte sie umbringen können!

Ich war kurz davor, Jeremia darum zu bitten, kurzen Prozess mit dem Mistvieh zu machen, als es seinen Blick hob und mir geradewegs in die Augen schaute. Die Intelligenz, die aus seinen grünen Augen emanierte, erschütterte mich in meinen Grundfesten. Das war kein Löwe, kein gewöhnlicher zumindest. Das war etwas weit Intelligenteres.

»Was ist er?«, fragte Raymond was ich hatte fragen wollen und runzelte nachdenklich die Stirn. »Ein Löwe? Ein Puma? Eine Mischung aus beidem?«

»Es ist eine Sie«, bemerkte Bree ernst.

Wir schauten sie alle verwundert an.

»Du fantasierst, Kind«, meinte die Seherin liebevoll, half ihrem Schützling auf die Beine und streichelte Bree zärtlich über das blonde Haar. Bree zuckte vor ihrer Berührung zurück, was mich in höchste Alarmbereitschaft versetzte. »Nach einem solchen Schrecken ist das auch kein Wunder.« Sie hüllte sie enger in ihren dunklen Mantel und tätschelte ihre Arme. Das junge Mädchen ließ sich den Körperkontakt gefallen und ich schob meine unnötige Vorsicht auf meine angespannten Nerven. Die Seherin konnte keine Verräterin sein. Das würde keinen Sinn ergeben.

»Ich habe noch nie ein solches Tier gesehen«, meinte Jeremia schließlich gedankenverloren, noch immer sein Schwert determiniert in der Hand haltend. Ich glaubte zwar nicht, dass er gegen ein solches Raubtier damit etwas würde ausrichten können, aber sicherer fühlte ich mich trotzdem.

»Es ist vermutlich ein vom Eiskönig eigens gezüchtetes Tier. Ich habe einmal gelesen, dass es in Rushworth gezielte Zuchten gibt, die sicherstellen, dass seltene Tiere nicht aussterben, wie beispielsweise der Wüstenbär in Westenraa«, wandte Raymond ein. Bei der Erwähnung des Eiskönigs spitzte die Bestie ihre Ohren, als würde sie tatsächlich begreifen, von wem wir sprachen. Ich versuchte, mit meiner Magie eine Art Verbindung herzustellen, doch das Tier reagierte nicht auf mein sanftes Locken. Es war also in dieser Hinsicht nicht begabt. Ich atmete erleichtert auf.

BORN TO BURN (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt