Kapitel 46

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»Jeremia«, flüsterte ich und beäugte ihn ängstlich. War er aufgebracht, weil ich ihm wieder gelauscht hatte, obwohl er augenscheinlich allein mit seiner Musik sein wollte?

»Du hast geweint«, sagte er nur, nachdem er mich gemustert hatte und rückte noch näher an mich heran. Dann strich er mir mit der Rückseite seiner Finger sanft über die tränennassen Wangen.

Ich erschauerte unter seiner zärtlichen Berührung und wich automatisch vor ihm zurück, worauf ich mir den Kopf an der Wand stieß und ein stechender Schmerz mich endgültig in die Wirklichkeit zurückholte. Ich atmete schaudernd aus und senkte den Blick, sodass ich Jeremia nicht mehr in die Augen schauen musste. Was sich wie ein Fehler anfühlte, aber doch auch irgendwie richtig.

Schließlich distanzierte er sich wieder von mir, brachte zwei Armlängen Abstand zwischen uns und räusperte sich vernehmlich. Ich wusste, was nun folgen würde. »Ich habe gehört, was heute vorgefallen ist.«

Ich nickte leicht, denn ich hatte nichts anderes erwartet. Natürlich wurde er über alles informiert.

»Hör zu, ich möchte mich nicht in deine Privatangelegenheiten einmischen«, versicherte er mir und atmete tief durch.
»Ich würde dir jedoch wärmstens empfehlen, dich emotional von alledem abzuschotten und dich auf deine Aufgabe zu konzentrieren. Danach, wenn alles so läuft, wie es soll, wirst du noch genügend Zeit haben, um Vergangenes zu betrauern. Das ist nur ein gut gemeinter Rat. Ob du ihn beherzigst oder nicht, liegt allein bei dir.«

Er hatte recht.

Aber so einfach war das nicht.

Und ironischerweise war gerade er der lebende Beweis dafür.

»Was ist mit dir?«, wollte ich also wissen, weil ich wieder einmal meine Zunge nicht in Zaum halten konnte. »Schaffst du es? Dich emotional vom Verlust deiner Verlobten abzuschotten?« Ich wollte ihn mit meiner Frage nicht verletzen. Ich wollte bloß mehr über ihn und das Mysterium, das ihn umgab, herausfinden. Aber ich hatte seine unterschwellige Trauer und Wut unterschätzt.

Mit einer einzigen ruckartigen Bewegung kam er wieder auf die Füße und sah mich aus blitzenden Augen warnend an. »Ich will und werde nicht über Maragaret und ihr Opfer sprechen. Weder mit dir, noch mit sonst jemandem. Nur weil du der Phönix bist, muss ich mein Privatleben nicht vor dir ausbreiten. Du solltest lieber schlafen gehen. Gute Nacht.« Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging mit hallenden Schritten aus der Küche, um dann über die Treppe ins erste Stockwerk und in sein Zimmer zu flüchten. Das Zufallen einer Tür signalisierte mir seinen endgültigen Abgang.

Ich fragte mich, ob ich jemals zu ihm durchdringen würde. Und warum er mir keine Ruhe ließ.

*

»Du siehst müde aus«, meinte Yasarah, als ich am nächsten Morgen gähnend auf mein Frühstück wartete und mutlos auf meiner Lippe kaute.

Ich murmelte ihr zu, dass ich schlecht geschlafen hätte, was nicht gelogen war und hob erst den Blick von meinem leeren Teller, als Marten und Cyryl in ihrem für sie so typischen Gleichschritt ins Esszimmer spazierten und sich anschickten, etwas zu sagen.

Sämtliche Gespräche verstummten, selbst die Zwillinge, die für gewöhnlich ständig miteinander herumalberten, hielten inne und richteten ihre Blicke auf die beiden Neuankömmlinge, denen vonseiten der Sonnenanbeterinnen offensichtlich ein großer Respekt entgegengebracht wurde.

Ich für meinen Teil wollte sie nur hören, um zu erfahren, ob die Situation in Ashbrook sich verschlechtert hatte und ob es Connor, Raymond und Theodore gutging.

Wobei es in dieser Situation wohl niemandem wirklich gutgehen konnte.

»Taron hat ein Ein- und Ausreiseverbot erwirkt«, sagte Marten mit ernstem Gesicht, ohne seine Zuhörer auch nur zu begrüßen, und ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. »Niemand, der nicht den ausdrücklichen und zu alledem schriftlichen Befehl des Königs hat, darf Ashbrook betreten, oder verlassen. Bei Missachtung dieses Gesetzes gibt es dreißig Rutenschläge bei einer wöchentlichen Bestrafungsrunde auf dem Marktplatz. Bis dahin wird man in einer Zelle im Kerker eingesperrt.«

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now