Kapitel 64

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Ich wusste nicht, ob an der Behauptung der Alten, es seien noch andere Gäste im Haus, tatsächlich etwas dran war, aber ehrlich gesagt hatte ich auch keine große Lust, es herauszufinden. Als Jeremia und ich auf leisen Sohlen unser Zimmer verließen und auf den spärlich beleuchteten Flur hinaustraten, spürte ich die bedrohliche Präsenz einer fremden Macht, einer dunklen Macht, die der der Sonnenanbeterinnen nicht im Geringsten ähnelte. Sie fühlte sich eher an wie die der Alten, wenn auch um einiges weniger stark und bedrohlich.

Jeremia weckte Raymond, während ich mich anschickte, die Seherin und Bree aus ihren Betten zu holen, was sich allerdings als überflüssig herausstellte, als ich leise die Tür öffnete. Bree saß reglos auf ihrer Betthälfte, fertig angezogen, wach und mit starrem Blick, von der Seherin dagegen war nichts zu sehen. »Wo ist sie?«, fragte ich in die Stille hinein und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie schwierig es für mich war, allein mit meiner ehemaligen Freundin zu sein.

Bree zuckte nur ihre schmalen Schultern und kämmte sich mit den Fingern nachlässig durch ihr langes blondes Haar. »Sie wollte in die Küche«, erklärte sie kurz angebunden und machte einen noch abwesenderen Eindruck als sonst, sodass ich sie einfach nur darum bat, mitzukommen und mich dann von ihrem so schmerzhaft vertrauten Anblick losriss, um zu Jeremia und Raymond aufzuschließen, die sich nun beide im Flur befanden und die Umgebung im Auge behielten.

Wenige Augenblicke später standen wir unruhig vor dem Gasthaus und warteten darauf, dass die Seherin mit dem versprochenen Proviant zurückkehrte. Das tat sie aber nicht. Zarte Morgenröte färbte bereits den Himmel, unsere Zeit wurde allmählich knapp. Also befahl ich Jeremia, Raymond und Bree, in den Stall zu gehen, um unsere Reittiere zu satteln und schlüpfte selbst in das Backsteinhaus zurück. Jeremia hatte zwar leise Zweifel geäußert, doch ich schaffte es, ihn davon zu überzeugen, dass die Alte mir nichts Böses wollte und wurde mit einem Kuss auf die Stirn letztlich freigegeben. Etwas hatte sich zwischen mir und dem jungen Mann geändert, ich spürte dies in jeder Berührung, in jedem Blick. Er machte nun keinen Hehl mehr aus seinen Gefühlen und stand zu mir, was Raymond bereits unglücklich zur Kenntnis genommen hatte. Ich jedoch war glücklicher denn je.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, betrat ich den Raum, in dem ich gestern Nacht jenes aufklärende und zugleich zutiefst verwirrende Gespräch mit der Alten geführt hatte und stellte fest, dass das Feuer, das nun in der Feuerstelle brannte, nichts mehr mit gewöhnlichem Feuer gemein hatte. Es loderte grün und verströmte einen pflanzlichen Geruch, den ich nicht zuordnen konnte. Mir wurde ein wenig flau. Trotzdem wagte ich mich weiter in den Raum hinein, bis ich zum Eingang der Küche gelangte und der Duft von frisch gebackenem Brot in meine Nase stieg und meinen Magen zum Knurren brachte. So sonderbar und abstoßend dieser Ort auch sein mochte, das Brot erschien mir jede Sünde wert. Ich hatte seit Stunden nichts mehr gegessen.

»Seherin?«, fragte ich versuchshalber und schreckte zusammen, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte. Nur mit Mühe und ganz viel Selbstbeherrschung unterdrückte ich einen spitzen Schrei, der womöglich Jeremia alarmiert hätte. Ich fuhr herum und blickte in das ausdruckslose Gesicht einer auffällig kleinen Frau, die mich anklagend musterte.

»Eure Seherin«, sagte sie mit eisiger Stimme, die so gar nicht zu ihrem schmächtigen Körper passte und schüttelte empört den Kopf, »hat versucht, meine Herrin und mich zu bestehlen. Solche wie sie werden in diesem Land ausgepeitscht und an den Pranger gestellt, jawohl!«

Ich erschrak über ihre harschen Worte und versuchte, mir meine wachsende Panik keinesfalls anmerken zu lassen. Wenn man die Seherin gefangen genommen hatte und nun bestrafte, würden wir viel zu viel Zeit dabei verlieren, sie zu befreien, sollte uns das überhaupt gelingen. »Ist sie-?«

»Nein, sie ist noch hier. Aber auch nur, weil meine Herrin so überaus großzügig ist«, presste die kleine Frau wütend hervor. Ihre hellen Augen blitzten bedrohlich. War das vielleicht die Küchenmagd, von der die Alte gestern gesprochen hatte? Ich wollte lieber nicht nachfragen, sie war auch so schon entrüstet genug. »Ihr findet Eure diebische Seherin im Stall.« Mehr sagte sie nicht, sondern trat um mich herum, ging in die Küche und kam dann zurück, um mir einen mittelgroßen Lederbeutel zu überreichen.

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now