Kapitel 63

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»Was geht hier vor sich?«, fragte Jeremia, der sich in den letzten paar Sekunden unbemerkt genähert haben musste.

Ich drehte mich langsam zu dem jungen Mann um und konnte ihn bloß aus weit aufgerissenen Augen anstarren. Ich würde Zeit benötigen, um mich mit all den Informationen, die ich der Alten zu verdanken hatte, abzufinden und mir über mein tatsächliches Schicksal, meine wahrhaftige Aufgabe klarzuwerden. Obwohl unser aller Vorhaben sich dadurch nicht änderte, so hatte sich die gesamte Situation geändert. Und ich wusste nicht, wie ich mit alledem umzugehen hatte. Niemand wusste das.

»Jeremia«, sagte ich verwirrt.

Er warf der Alten einen bedrohlichen Blick zu, worauf er an mich herantrat und mich an sich zog. Er begriff, dass ich unter Schock stand und schenkte mir Kraft, stützte mich. Mein Körper zitterte an seinem. »Was ist passiert?«, murmelte er mir besorgt zu und schluckte. »Worüber habt ihr euch unterhalten?«

»Ich stehe hier, Mahoney«, erwiderte die Alte amüsiert und lachte ihr gackerndes Lachen, das einem die Haare zu Berge stehen ließ. »Ihr könnt mich gerne konsultieren, wenn Ihr etwas wissen wollt. Ich glaube nicht, dass Eure Liebste zu reden bereit ist. Aber es mussten ihr endlich die Augen geöffnet werden, findet Ihr nicht auch, Alexandra?«

Sie hatte recht. Ich mochte es nicht, belogen oder mit Halbwahrheiten abgespeist zu werden und doch wünschte ich mir, ich hätte mehr Zeit dafür gehabt, das Gesagte sacken zu lassen und müsste nicht in wenigen Stunden los, um in das Königreich des Eiskönigs einzudringen. Was auch immer dieser Titel für Überraschungen in sich bergen mochte. Ich atmete hektisch und krallte mich an Jeremia fest, der mir in diesem Augenblick wie ein Anker erschien. Eine Garantie für meine Sicherheit. Obwohl es dumm war, so zu denken, weil nichts und niemand mich beschützen konnte, auch meine Liebe zu Jeremia nicht. Aber es fühlte sich gut an, von ihm gehalten zu werden, während meine Gedanken verrückspielten. Deshalb hielt ich ihn fest und ließ mich von ihm festhalten.

»Also gut«, sagte Jeremia mit trügerischer Ruhe in der Stimme. »Dann verlange ich zu erfahren, was Ihr ihr erzählt habt.«

»Oh, verlangt Ihr das? Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr in der Position seid, irgendetwas von mir zu verlangen. Nicht dass ich etwas gegen hübsche dominante Männer hätte, aber in meinem Haus erteilt außer mir keiner Befehle. Nur damit wir uns richtig verstehen.«

Mit mir hatte sie nicht so abfällig gesprochen.

Ein tiefes Knurren drang aus Jeremias Kehle. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die dünnen Lippen der Alten sich zu einem triumphalen Lächeln verzogen. Es gefiel ihr, dass er sich von ihr und ihren Worten so leicht provozieren ließ.

»Lass nur, Jeremia«, sagte ich leise und zog am Saum seines abgetragenen Hemds. »Ich erkläre es dir.«

Er nickte, nun wieder gefasst, und ging an meiner Seite, noch immer seinen Arm um mich gelegt, aus dem Raum. Ich drehte mich zu der Alten um und nickte ihr über die Schulter hinweg zu. »Danke. Dafür, dass Ihr mir gesagt habt, was Ihr wisst.«

»Das ist noch lange nicht alles, was ich weiß. Aber es gibt Dinge, die Ihr selbst herausfinden solltet.«

»Was Ihr seid, zum Beispiel?«

Sie würdigte mich keiner Antwort und wandte sich ab, sodass ich nur noch ihr unansehnliches Profil mit der spitzen, fleckigen Nase im Licht der Flammen erkennen konnte. Dann entschwand sie vollständig aus meinem Blickfeld. Wir steuerten die Treppe an.

*

»Bedeutet das, dass wir noch vor dem Morgengrauen wieder aufbrechen müssen?«, erkundigte sich die Seherin, als ich die Worte der Alten grob wiedergab und mich dann erschöpft auf das unbequeme Bett fallen ließ, das Jeremia und mir in dieser Nacht zum Schlafen dienen würde. Jegliche unanständigen Gedanken waren einer bleiernen Gewissheit gewichen, einer Gewissheit, die mich begleiten würde, bis ich die Prophezeiung erfüllt oder meinen letzten Atemzug getan haben würde.

BORN TO BURN (Band 1)On viuen les histories. Descobreix ara