» Kapitel 4 «

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Die Wahl liegt bei dir, ging es mir den ganzen restlichen Tag durch den Kopf. Bei dir.

War das zu fassen? Man sperrte mich in eine winzige Zelle und erwartete eine Antwort. Als ob ich tatsächlich eine Wahl hätte... Wie sah die denn aus? Sterben oder dem König dienen? War das die Wahl, das Ultimatum, das über mein Schicksal entschied? Natürlich würde ich mich gegen die Hinrichtung und für die Garde entscheiden, dessen waren sich alle bewusst. Und trotzdem tat der Offizier, als würde er mir meinen Freiraum zum Treffen einer Entscheidung lassen.

Ich spürte die harte Wand an meinem Rücken und stieß langsam und bedächtig die Luft aus meinen Lungen, worauf ich sie wieder einatmete. Schon nach kurzer Zeit verfiel ich in einen gleichmäßigen Rhythmus, der mich beruhigte. Ich wollte mich in irgendetwas verlieren, alles um mich herum vergessen, wenigstens für ein paar Minuten in das ruhige Leben zurückkehren, das ich gelebt hatte, bevor alles aus den Fugen geriet.

Obgleich es in der letzten Zeit gar nicht so ruhig gewesen war, wenn ich es mir recht überlegte. Denn vor ein paar Wochen war Connor Lassester, wie ich ja nun wusste, in meinen tristen Alltag geschneit.

Abends, wenn die meisten Menschen sich bereits in ihren kläglichen Behausungen einfanden, um den patrouillierenden Wachen zu entgehen, schlich ich mich gerne klammheimlich weg. Meistens spazierte ich einfach nur am Ashbrook River entlang, den Blick in die Ferne gerichtet, der schlafenden Stadt entgegen. Durch das Ausgehverbot nach einundzwanzig Uhr, wagte sich so gut wie niemand mehr um diese Zeit aus dem Haus. Man könnte meinen, ich wäre eine Rebellin, eine mutige Kämpferin, die sich dem sinnlosen Verbot des tyrannischen Herrschers entgegensetzte, aber so war ich nicht. Ganz im Gegenteil.

Die Gründe für mein Wegschleichen waren rein egoistischer Natur. Ich wollte allein sein mit meinen Gedanken, meine innere Mitte in der Natur finden, die untergehenden Strahlen der Sonne betrachten. Mein Zuhause war kein schöner Ort. Ich besuchte tagtäglich die kleine schäbige Schule im Dorf und arbeitete danach als Aushilfsköchin in einer winzigen, relativ gut besuchten Kneipe. Die anderen Sonnenanbeterinnen, die ich kannte, führten ein ähnliches Leben. Uns wurde von Geburt an eingeschärft, niemals in irgendeiner Hinsicht aufzufallen. Also lebten wir im Hintergrund und passten uns den Menschen an. Niemand erkannte in uns, was wir waren. Magische Geschöpfe mit einem fantasievollen Namen, der eine unserer Quellen verriet und damit einen unserer größter Schwachpunkte.

Seit ich überhaupt denken konnte, wohnte ich bei der Köchin. Ich wusste, dass sie nicht meine Mutter, ja, dass sie nicht einmal über mehrere Ecken mit mir verwandt war. Sie hatte mich bei sich aufgenommen, weil es irgendjemand hatte tun müssen. Keine von uns hatte leibliche Eltern oder eine liebevolle Kindheit. Wir wurden nur so lange von einem Menschen großgezogen, bis wir ausziehen und für uns selbst sorgen konnten. Der seelische Aspekt wurde bei alledem vom praktischen in den Schatten gestellt, und es war gut so. Ich hatte mich mit meinem langweiligen Leben abgefunden und hielt mich von der Zivilisation fern, daher die abendlichen Spaziergänge, die nichts weiter aus mir machten, als ein Mädchen, das seine Freiheit nur dann erlangte, wenn es sein Wohlbefinden aufs Spiel setzte.

Ich wusste schließlich, dass die Soldaten durch die Straßen marschierten und Gesetzesbrecher bestraften. Wen man nach einundzwanzig Uhr unterwegs erwischte, dem blühten violette Striemen auf dem Rücken. Man wurde gnadenlos ausgepeitscht und gedemütigt. Darauf wiederholte man seinen Fehler im besten Fall nie wieder. Denn wenn man zum zweiten Mal aufgegriffen wurde, galt man als Verräter. Und Verräter kamen auf den Scheiterhaufen. So einfach war das.

Ich hatte noch keine Probleme mit den Wachen gehabt. Normalerweise blieben sie in der Stadt, sodass ich am Fluss meine Ruhe hatte und mich im Falle eines plötzlichen Auftauchens noch immer verstecken konnte. Es fühlte sich jeden Tag wie ein Erfolg an, wenn ich gesund und munter in mein sogenanntes Zuhause zurückkehrte. Eine Zusicherung, überlebt zu haben. Einen weiteren Tag.

Die Köchin sagte zu meinen illegalen Ausflügen nichts. Es war ihr schlicht und einfach egal, was mit mir geschah und wenn ich mich mit meinen leichtsinnigen Entscheidungen ins Jenseits katapultierte, würde sie mich wenigstens los sein. Und, na ja, nun war es ganz offensichtlich soweit. Wahrscheinlich lachte sie sich bereits ins Fäustchen und hielt nach einer fähigeren Aushilfsköchin Ausschau. Wundern würde es mich jedenfalls nicht.

Ich fragte mich, warum sie sich überhaupt dazu bereit erklärt hatte, einer Hexe Zuflucht zu gewähren. Was waren ihre Beweggründe gewesen? Bekam sie Geld? Und wenn ja, von wem? Ich hatte eine Zeitlang versucht, mehr über meine Herkunft herauszufinden, aber die Köchin hatte es nicht für nötig gehalten, mir irgendetwas zu erklären. Sie wiederholte nur immerzu, ich solle dankbar sein, dass es mir an nichts mangelte, und dabei beließ sie es. Auch die Ältesten sprachen nur, wenn sie sprechen wollten. Und das geschah nicht allzu häufig. Eigentlich nie.

Irgendwann hatte ich keine Lust mehr gehabt, ständig nachzuhaken. Ich hatte aufgegeben. Und nun wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan. Vielleicht, wenn ich nur hartnäckiger gewesen wäre, wäre die Köchin mit der Sprache herausgerückt. Ganz egal, wie lange ich dafür gebraucht hätte, zu einem bestimmten Zeitpunkt wäre sie garantiert eingeknickt.

Aber da ich nicht beharrlich genug gewesen war, saß ich nun in einer lichtlosen Zelle und hatte keinerlei Anhaltspunkte. Bald würde ich volljährig werden, und ich wusste, dass sich dann meine Fähigkeiten entfalten würden, aber wie ich sie anzuwenden hatte, das hatte mir niemand gesagt.

Die Einsamkeit, die mich mein ganzes Leben lang begleitet hatte, drohte mich jetzt zu ersticken.

Erst in diesem Augenblick auf der unbequemen Pritsche, spürte ich all die Jahre des Alleinseins, der Distanz zu allem und jedem. Und ich begriff, wie Connor mich hatte austricksen können. Ich sah es klar und deutlich vor meinen Augen. Ich war keineswegs naiv gewesen, höchstens unvorsichtig, ich hatte mich lediglich nach Liebe gesehnt. Nach diesem wunderbaren, reinen Gefühl, das mir niemals jemand entgegengebracht und das ich selbst niemals empfunden hatte.

Als Connor also Interesse an mir zeigte, mich mit Zärtlichkeiten förmlich überschüttete und mir mit seinen charmanten Worten und seinen blauen Augen den Kopf verdrehte, hatte er schon so gut wie gewonnen, denn ich war ihm freudestrahlend ins Netz gegangen.

Mehr hatte es nicht gebraucht. Nur die angebliche Liebe eines Mannes. Bree war die einzige Person gewesen, die sich wahrhaft für mich interessiert hatte und als sie dann verschwand, kam Connor gerade recht.

Gequält schloss ich die Augen und wartete darauf, dass der Offizier und die Tyrannin zurückkehrten, um sich meine endgültige Entscheidung anzuhören.

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now