» Kapitel 23 «

4.9K 458 82
                                    

Ich arbeitete härter als jemals zuvor.

Nicht nur an meinen Fähigkeiten im Kampf, sondern vor allen Dingen an meiner Magie.

Die Mittage verbrachte ich in der Gesellschaft von Theodore und dem Offizier, der mich nun noch mehr im Auge zu behalten schien, und die Abende bei Raymond in der Bibliothek. Er lehrte mich alles, was er über die Sonnenanbeterinnen und ihre Magie wusste und half mir bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit meiner Ahnen.

Eines Tages kam ich wieder auf das eine Thema zu sprechen, das mir nachts den Schlaf raubte.

»Ihr habt mir an meinem ersten Tag bei Euch gesagt, die Eltern würden ihre Kinder nicht freiwillig weggeben. Wie ist es dann möglich, dass sie allesamt, mich eingeschlossen, bei Fremden aufwachsen? Wieso gibt es keine Beschwerden?«

Obwohl ich meine leiblichen Eltern niemals kennengelernt hatte und in den Genuss einer lieblosen Kindheit gekommen war, hatte ich oft über sie nachgedacht. Ob sie gestorben seien? Ob sie mich mit voller Absicht weggeben hätten? Mein ganzes Leben war ein Fragezeichen. Und nun lichteten sich endlich die Nebelschwaden.

»Das ist ein sehr, nun ja,« Raymond kratzte sich am Kopf, »unangenehmes Thema, wie ich finde.«

»Ich werde damit zurechtkommen«, sagte ich resolut und setzte mich gerader auf.

Raymond und ich saßen wieder einmal in einem seiner magischen Kreise, der das Mithören eines Außenstehenden verhindern sollte. Ich mochte diese Momente der völligen Ungestörtheit sehr gerne. Ebenso wie ich Raymond und seine sarkastische Art mochte. Er war ein Lichtfleck in diesem sonst so verkommenen Schloss.

»Nun, gut, wie es dir beliebt«, erwiderte er, worauf er zu reden begann: »Du hast bestimmt schon von den Ältesten in euren Reihen gehört.«

Ich nickte: »Das habe ich allerdings. Ich habe mich sogar einmal mit einer von ihnen unterhalten, doch sie hatte mir nichts über meine Vergangenheit erzählen wollen. Irgendwann gab ich es auf und fragte nicht weiter nach. Es war aussichtslos, auf eine Antwort zu hoffen.«

»Ja, das glaube ich dir aufs Wort. Sie ist ja auch dafür verantwortlich, dass du bei einer Fremden aufgewachsen ist.«

Als er nicht weiterredete, hakte ich ungeduldig nach. »Würdet Ihr bitte fortfahren?«

»Sie, also die Ältesten, nennen es eine Vorsichtsmaßnahme. Sobald eine Sonnenanbeterin geboren wird, muss sie von ihren tatsächlichen Eltern getrennt und von Unbeteiligten aufgezogen werden. Diese erhalten einen Batzen Gold dafür und halten ihren Mund, was eure Herkunft angeht. Wenn ihr die Volljährigkeit erreicht, sind sie mit sofortiger Wirkung von ihren Pflichten entbunden.«

Ich dachte scharf nach, kam jedoch zu keiner logischen Schlussfolgerung. »Ich verstehe noch immer nicht, wieso sie das tun. Was bezwecken sie damit?« Ich kaute konzentriert auf meiner Unterlippe.

»Die Ältesten wollen die Sonnenanbeterinnen von den Menschen trennen. Würdet ihr bei euren Eltern aufwachsen, wärt ihr weniger leicht zu kontrollieren, weil ihr einen sicheren Ort mit geliebten Menschen hättet. So aber - ausgestoßen und ungeliebt - seid ihr kontrollierbar. Was denkst du, was all die Sonnenanbeterinnen, die nicht von der Garde aufgelesen werden, nach ihrem achtzehnten Geburtstag tun? Sie gehen zu den Ältesten, weil sie von ihnen Schutz erwarten.«

»Das bedeutet, dass die Ältesten nicht auf der Seite ihrer eigenen Art sind, sondern die Zügel in der Hand behalten wollen. Das ist doch...« Ich schnappte nach Luft, »abstoßend! Was versprechen sie sich davon?«

»Es ist wohl eine Art Altersvorsorge. Sonnenanbeterinnen können sehr alt werden, was an ihren hervorragenden Genen liegt, doch mit dem fortschreitenden Alter gehen auch ihre Fähigkeiten und ihre Magie stetig zurück. Sie brauchen jemanden, der sie im Falle eines Überfalls oder eine Krieges beschützt. Und das sind dann die aufgelesenen Sonnenanbeterinnen, die sich ihnen verpflichtet fühlen.« Raymond schien das Thema nicht zu behagen, denn er wischte sich immer wieder mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn.

BORN TO BURN (Band 1)Where stories live. Discover now