Jonas #7

5.7K 376 12
                                    

Meine Finger zitterten.

Ich sah auf die Uhr an der Wand. Bloß noch 9 Minuten, bis ich nicht mehr neben ihm sein würde. Ich wusste nicht, ob ich darüber erleichtert sein oder es schade finden sollte. Diese unangenehme Situation wäre dann endlich vorbei. Die verkrampfte, angespannte Stille, zwischen uns, die aus so vielen Worten bestand, die gesagt werden mussten, aber immer verschwiegen bleiben würden. Das Gefühl gleich anzufangen zu weinen, schon das Brennen der Tränen zu spüren, würde dann wahrscheinlich nicht ganz aufhören. Aber vielleicht würde es schwächer werden.

Aber er wäre nicht mehr da. Ich würde seinen Atem nicht mehr neben mir hören, die Wärme von seinem Körper, nicht mehr spüren. Das wollte ich nicht. Ich wollte bei ihm sein. Meine Finger mit seinen verschränken, aller Welt zeigen, dass er mir gehörte, mir alleine und ihn nie wieder loslassen. Wieso musste es so verdammt kompliziert sein? Konnten wir nicht einfach glücklich werden? Einfach zusammenkommen und glücklich sein? Wieso um Himmels Willen war diese gottverdammte Welt so grausam? Wie hatte Casper es beschrieben? Die Welt ist nicht gegen uns. Wir sind ihr bloß egal. Und damit hatte es so recht... Aber wieso musste es so weh tun? Ich biss mir auf die Lippe, sah aus dem Fenster und blinzelte. Ich wollte keine Schwäche zeigen. Ich musste darüber hinwegkommen, statt in Sentimentalität zu versinken. Das änderte gar nichts. Als ich mich wieder im Griff hatte, nahm ich meinen Kugelschreiber in die Hand und malte die Karos an meinem Heftrand an. Die letzten Minuten nutzte unser Mathelehrer sowieso bloß dazu Monologe darüber zu führen, was man im Abi unbedingt brauchte und was man bei der Hausaufgabe auf gar keinen Fall vergessen durfte. Da hörte nie jemand zu, außer die Streber in der ersten Reihe.

Endlich klingelte die Schulglocke und Corbin stand etwas steifbeinig auf und schwang sich seine Lederaktentasche, um die ich ihn wirklich beneidete und die super zu ihm passte, über die Schulter und ging vor allen anderen aus dem Raum. Unser Mathelehrer rief ihm noch hinterher, dass die Mathestunde erst aus sei, wenn er sie beendete, was Corbin wahrscheinlich gar nicht mehr hörte, weil er schon auf den Gang hinausgeschlüpft und die Türe hinter ihm ins Schloss gefallen war. Seine Freunde fingen an zu tuscheln. Sonst hing Corbin immer mit ihnen in der Raucherecke oder bei den Basketballkörben ab. Wieso hatte er es so eilig wegzukommen? Lag es vielleicht an mir? Hatte er so schnell wie möglich von mir wegwollen?

Als unser Lehrer, seinen Monolog beendet hatte, stand ich auf. Mir war ein wenig schwindelig. Ich schwang mir meinen Rucksack auf die Schulter und ertappte mich dabei, wie ich im Kopf das Schulgelände abging und mir überlegte wo er sein könnte. Ich machte mir wirklich Sorgen um ihn. Aber sollte ich es wirklich wagen? Es wäre eine neue Chance. Aber wahrscheinlich würde ich sowieso bloß einen Korb bekommen. Und vielleicht nochmal einen Mittelfinger.

Ich ging aus dem Schulgebäude raus, ohne meine Tasche vor dem Musiksaal abzulegen, wo wir gleich Unterricht hatten. So lange wie der Mann noch geredet hatte, durfte man da jetzt ja sowieso nicht mehr rein. Ich sprang die Treppe zum unteren Schulhof, zwei Stufen auf einmal nehmend herunter und sah ihn. Mein Herz begann wieder zu rasen und gegen meine Rippen zu schlagen. Es fühlte sich an, als sei ich gerade einen Marathon gelaufen. Er saß auf der Lehne, der letzten Bank, von den vieren, die neben dem Basketballfeld auf dem Rasen standen. Sein Blick war auf den Boden vor der Bank gerichtet, wo schon lange kein Gras mehr wuchs und er hatte Kopfhörer in den Ohren. Seine Ellenbogen hatte er auf seine Oberschenkel gestützt. Er war blass und seine Hände, die sich zwischen seinen Knien befanden zitterten leicht. Er sah aus als hätte er seit Tagen nicht mehr wirklich geschlafen und über seinem Kinn lag ein leichter Schatten. Ich konnte bloß beten, dass es ihm besser ging, als er aussah. Meine Füße steuerten wie von selbst auf die Bank zu. Die Bank neben ihm war leer. Wahrscheinlich hatte er jedem, der sich dorthin setzten wollte, einen Blick zugeworfen, der bedeutete, dass er ihn umbringen würde, wenn er es wagen würde. Und jetzt kam ich, jemand den er wahrscheinlich verachtete und wollte ihn nach seinem Wohlbefinden fragen. Das war ein komplettes Himmelfahrtskommando. Ich wusste langsam wie sich eine Fliege in der Menschenwelt fühlen musste. Klein, unbedeutend und immer mit der Angst, in nächsten Moment zerquetscht zu werden, von den Riesen, um einen herum. Ich steuerte aber unbeirrt weiter auf ihn zu. Mehr als mich schlagen konnte er nicht. Ja okay... Mir Sachen sagen, die mehr wehtaten als physische Wunden, es je konnten.

Ich kramte kurz in meiner Tasche nach etwas. Ich hatte sonst immer Schokolade in einer der Seitentaschen. Das wäre vielleicht ein besserer Anfang, als wie gestern ihn einfach zu überfallen. Plötzlich lief ich gegen etwas Hartes, strauchelte und fiel auf den Asphalt, von dem Basketballplatz. Ich sah auf. Vor mir stand ein Freund von Corbin.

Oh, my life...Where stories live. Discover now