Corbin #12

9.2K 293 14
                                    

Ich schlug meine Augen auf. Über mir war die Decke meines Zimmers. Ich setzte mich auf. Ein dumpfer Kopfschmerz breitete sich unter meiner Schädeldecke aus. Ich zitterte und mir war übel. Ich hatte keinen Hunger. Ich hatte keinen Durst. Ich wollte einfach bloß unbedingt eine Zigarette. Wie lange hatte ich mir verdammt nochmal eingeredet ich sei nicht süchtig? Alles eine verdammte Lüge. Ich hätte dieses Gift niemals anrühren sollen. Ich verfluchte mein vierzehnjähriges Ich dafür. Ich stand auf. Sofort wurde mir noch schlechter und schwindelig. Na super. Schule konnte ich auf gar keinen Fall sausen lassen. Dann würde ich mich halt über mein Heft übergeben, aber ich durfte keine Sekunde des Unterrichts verpassen. Ich stand auf, holte mir ein paar Klamotten aus meinem Schrank und stellte mich im Bad vor den Spiegel. Ich sah scheiße aus, aber wenigstens hatte ich die Genugtuung, dass Chris schlimmer aussehen musste. Meine Augenbraue, Lippe und Wange waren einzige blaue Flecken, angeschwollen und zum Teil aufgeplatzt. Jetzt konnte ich den Anblick meines Gesichtes erst recht nicht mehr ertragen. Ich wandte mich ab, zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Ich hatte keine Lust heute Chris zu sehen. Vielleicht hatte ich Glück und er würde heute nicht kommen. Er war eine Klasse über mir, also würde ich ihn nicht allzu oft sehen, aber ich wollte ihn nicht einmal von Weitem sehen. Wahrscheinlich würde er seine ganzen Primatenfreunde auf mich ansetzten. Spätestens jetzt hatte ich keine Freunde mehr. Jetzt würde es niemand mehr jucken, wenn ich sterben würde, wenn es überhaupt irgendjemand jemals interessiert hat. Und Selbstmitleidattacke! Ich seufzte und achtete auf Queen. Ich sollte eindeutig aufhören so viel nachzudenken. Das Resultat war dasselbe wie wenn ich nicht nachdachte. Manchmal machte es aber alles bloß schlimmer.

Jonas. Mir kam der Name in den Sinn, ohne dass ich nachdachte. Jo-nas. Er klang schön. Ich mochte ihn. Und ich mochte die Augen die dazu gehörten. Verdammt! Ich wollte nicht mehr an ihn denken! Ich konnte diesen Jungen nicht ausstehen! Seine unschuldige Art. Sein ganzes Auftreten. Seine großen Augen. In mir stieg Wut auf. Dieser kleine Wicht hatte es geschafft mein Leben, das ich endlich mal wieder auf die Reihe bekam, von einem Tag auf den anderen komplett auf den Kopf zu stellen. Hatte alles zusammenfallen lassen wie ein lächerliches Kartenhaus. Sah tatenlos dabei zu. Ich war wirklich nutzlos. Ich bekam nicht einmal mein Leben so weit auf die Reihe, dass es einem kleinen Windhauch standhielt. Ich wollte nichts mit diesem Pimpf zu tun haben! Sein ganzes Auftreten war eine pure Provokation. Als sei er so süß und unschuldig wie er tat. Ha! Dass ich nicht lache! Er sollte mich in Ruhe lassen und wenn er das nicht konnte, dahin gehen wo der Pfeffer wächst. Meine Finger am Henkel der Kaffeekanne verkrampften sich und ich verkleckerte ein wenig Kaffee auf dem Tisch. Ich wischte die braune Brühe verärgert mit dem Ärmel meiner Sweatshirtjacke weg. Ich war wie mechanisch in meine Kleider geschlüpft, nachdem ich mich abgetrocknet hatte und hatte wie ferngesteuert meine Haare gekämmt, meine Zähne geputzt und den Kaffee eingeschenkt. Meine Gedanken waren lange nicht mehr so interessant gewesen, dass ich meine Umgebung nicht mitbekam. Ich steigerte mich in diesen ganzen Mist viel zu sehr rein. Ich sah auf die Uhr. Dadurch, dass ich die ganzen Handgriffe, die ich mittlerweile jeden Tag immer in derselben Reihenfolge ausübte, heute ohne groß über sie nachzudenken erledigt hatte, hatte ich jetzt noch ganz schön viel Zeit. Ich stapfte dennoch zu meinem Auto. Um die Zeit wenigstens ein wenig angenehmer zu machen kaufte ich mir beim Bäcker in der Nähe der Schule noch ein belegtes Brötchen und suchte mir dann auf dem Schülerparkplatz eine Möglichkeit zu parken. Was nicht schwer war, weil es nicht viele Leute gab die so früh da waren wie ich heute. Ich drehte die Musik so hoch, dass ich das Vogelgezwitscher nicht mehr hörte und summte mit, während ich mich abschnallte und es mir im Schneidersitz im Fahrersitz bequem machte. Das Brötchen in der Rechten und der Kaffeebecher in der Linken. Ich versuchte das schlechte Gewissen zu ignorieren, das sich mit jedem Bissen durch meinen Kopf schlängelte. Eigentlich hatte ich mir ja angewöhnt weder zu frühstücken noch zu Abend zu essen. Ich hatte die Asianudeln, die ich gestern nicht angerührt hatte, obwohl sie mich fünf Euro gekostet hatten, weggeworfen. Sie waren zu einem ekelhaften Klumpen zusammengebacken gewesen, dass ich sie nicht einmal mehr mit einer Zange anfassen würde, geschweige denn essen. Mehr als den Latte Macchiato und viel Wasser hatte ich gestern also nichts gegessen. Wenn ich jetzt das Brötchen aß, wurde ich eben den Rest des Tages nichts essen. Ich fühlte mich immer noch schlecht wegen dem McDonalds Fraß am Montag. Viel zu viel Fett. Viel zu viele Kalorien.

Gestern hätte ich meinen Chef die Füße küssen können, dass er mich angerufen hatte und mich damit vor einem Fehler bewahrt hatte. Er hatte bloß fragen wollen, ob ich die Schicht von Antonio heute Abend übernehmen könne, weil ihm etwas Wichtiges dazwischen gekommen war. Wahrscheinlich hatte einer seiner Prostituierten bloß heute Abend für ihn Zeit. Ich hatte zugesagt. Toni hatte schon längst wieder aufgelegt, als ich gegangen war und das Telefon am Ohr, als Vorwand dafür benutzt hatte mich nicht gescheit zu verabschieden. Was hätte ich auch machen sollen? Ihn umarmen? Es wäre bloß eine peinliche Situation entstanden auf die ich echt keinen Bock gehabt hatte.

Wieso zum Teufel hatte ich mich bei Jonas entschuldigen wollen? Ich hatte kein Interesse an ihm. Deswegen musste ich mich nicht rechtfertigen. Weder vor ihm noch vor mir noch vor sonst jemand. Okay. Vielleicht war ich ein wenig ruppig gewesen. Aber was soll's? Er musste auch lernen, dass das Leben kein Zuckerschlecken war. Ich warf die leere Bäckertüte in den Fußraum des Beifahrersitzes und stieg mit der Tasche über der Schulter und dem Kaffeebecher in der Hand aus. Mein Magen fühlte sich leer und schlecht an. Mir wurde wieder schwindelig. Lag das am Hunger, an dem Fehlen einer Zigarette oder war mein Kreislauf zur Zeit nicht auf Trab? Ich stützte mich kurz am Wagen ab, bis der schlimmste Schwindel vorüber war und schloss das Auto ab. An meinem Kaffee nippend lief ich über den Schulhof. Ich achtete auf jedes Gesicht, das mich ansah. Jeden Blick, der mir geschenkt wurde. Achtete darauf, ob mich irgendjemand ansah, mit seinen Freunden tuschelte oder vielleicht sogar dumm anmachte. Mittlerweile musste es sich ja wohl rumgesprochen haben, dass ich mit einem Jungen geknutscht habe. Ich hatte keinen Bock auf Aufmerksamkeit. Besonders nicht von dieser Sorte. Jetzt war der Schulhof zwar noch recht leer aber ein paar würden schon etwas sagen oder doof reagieren. Meine Handflächen begannen zu schwitzen und ich hatte das Gefühl, dass mich alle anstarrten. Ich wollte diesen Tag einfach bloß so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ich wollte mit niemand reden. Niemand sehen. Einfach nach Hause gehen, mich unter der Decke verkriechen und alles vergessen. Und ich wollte eine rauchen, verdammt! Ich zog mir die Kapuze meiner Jacke über den Kopf und meine Schultern hoch.

Als mir jemand auf die Schulter tippte sprang ich fast einen halben Meter in die Luft und hab mich wahrscheinlich so angehört wie eine erschreckte Katze. Ich musterte das Mädchen, das vor mir stand. Es war Gina. Sie spielte mit ihren karamellbraunen Haaren, deren Spitzen in ein Blond übergingen. Ich hatte keine Lust mit ihr über Gelnägel und Parties zu reden, zu denen ich zwar eingeladen war, aber zu denen ich nicht gegangen bin. Sie hätte hübsch sein können, ohne dem vielen Makeup und dem künstlichen Wimpernaufschlag. Ihr Ausschnitt war mal wieder viel zu weit. Ein paar Jungs, die an uns vorbeigingen, zwinkerten ihr zu. Sie ignorierte sie. "Hey." Sie lächelte mich mit ihren Lippen an, auf denen ihr Lipgloss glitzerte. Ich nickte knapp. "Hi." "Ich wollte bloß sagen, dass es bestimmt ein Missverständnis ist." Ich sah sie verständnislos an. "Das mit dem Kuss und alles. Mit Jonas." Sie strahlte mich an, hakte sich bei mir unter und schleifte mich Richtung Klassenzimmer. "Ich meine bloß, dass ich für dich da bin, falls die anderen meinen dich wegen so etwas ignorieren zu müssen oder dumm anmachen. Das ist bloß eine Kleinigkeit und so etwas hat ja nichts zu bedeuten. Also meiner Meinung nach." Sie lachte etwas zu laut. Ich spüre wie meine Ohren anfingen zu glühen. Ich wollte nicht mit ihr darüber reden. Ich sah sie nicht an, aber zwang mich zu einem Lächeln. "Das ist nett von dir." Sie drückte mir einen Zettel in die Hand und flüsterte mir "Ich bin immer für sich da, wenn du mich brauchst." ins Ohr, hauchte mir einen kleinen Kuss auf die Wange, wobei sie meine Wange nicht berührte und ging auch schon wieder zu ihren Freundinnen, die sie sofort ausfragten. Ich sah auf den Zettel. Sie hatte das i mit einem Herzchen verziert. Ja, ich ruf dich dann an, wenn ich Sex brauche, dachte eine kleine sarkastische Stimme in meinem Kopf, die wusste, was Gina unter 'für dich da sein' verstand. Ich steckte die Nummer aber einfach mal in meine Hosentasche. Heute war so ein Tag an dem ich mir dachte "Kann ich ja vielleicht noch brauchen.". Muss man halt mal schauen wofür...

Oh, my life...Where stories live. Discover now