Jonas #19

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Ich starrte seinen Rücken an. Meine Hand verkrampfte sich. Ich wusste nicht, ob es eine gute Idee gewesen war, ihm den Zettel zu geben. Wie würde er reagieren? Ich sah wie er das Papier in sein Mäppchen schob und aufstand, um unseren Lehrer zu begrüßen. Ich starrte seine Rückseite an. Sogar von hinten war er schön. "Jonas, stehst du auch auf?", fragte Herr Bofinger. Ich spürte die Blicke der Klasse auf mir und mir schoss das Blut in die Wangen. Schnell stand ich auf, wobei der Stuhl beinahe umfiel. Ich behielt meinen Blick auf Corbins Rücken gerichtet, der mich nicht angesehen hatte. Nach der Begrüßung ließ ich mich auf meinen Platz fallen. Das feine Stechen hatte sich von meiner Brust in meine Lunge gezogen. Ich bekam bloß noch knapp Luft. Ich schloss die Augen und versuchte endlich wieder frei durchatmen zu können. Aber es fühlte sich an, als läge ein Felsen auf meiner Brust. Das Blut rauschte in meinen Ohren und ich fühlte meinen Herzschlag in meinen Fingerspitzen. Im Rhythmus meines Herzens ging mir ein Gedanke durch den Kopf. "Ich bin ihm egal. Ich bin ihm egal. Ich bin ihm egal." Was wenn ich mir durch diesen Zettel gerade mein eigenes Grab ausgehoben hatte? Was wenn er sich eigentlich eine Bedenkzeit hatte nehmen wollen und ich ihm nicht genug Zeit gab, durch meine beschissene Ungeduld? Was wenn seine Entscheidung noch nicht ganz ausgereift war, ich ihn aber unter Druck setzte und damit einen Entschluss herauf beschwor, der vielleicht sonst anders ausgefallen wäre? Mir wurde übel bei der Vorstellung. Wenn das hier bloß Schwärmen war, wollte ich nicht wissen, wie es sich anfühlte ernsthaft verliebt zu sein. Ich strich mir eine Strähne aus der Stirn und versuchte mich zu konzentrieren. Mich mit dem Unterrichtsstoff abzulenken. Es gelang mir nicht. Würde er den Zettel ignorieren? Würde er mir schreiben oder mich anrufen? Mir würde bewusst, dass ich noch fünf einhalb Unterrichtsstunden ertragen musste. Wie sollte ich das überleben? Ich würde drin sitzen, mit meinen Gedanken ganz woanders, weil ich andere Probleme habe als Matheformeln oder was weiß ich was. Alle Lehrer bildeten sich immer ein, dass sich um ihr Fach, das sie unterrichten, die gesamte Welt dreht und es eine persönliche Beleidigung ist, wenn jemand das Fach nicht mag oder versteht. Aber im Leben von Schülern, die noch nicht einmal wirklich aus der Pubertät draußen sind, gibt es zum Teil wichtigere Dinge, als die Schule. Natürlich. In der Schule lernt, man das Grundwissen, das man benötigt, um später einen Beruf gescheit ausüben zu können, aber was bringt einem dieses Wissen, wenn man später psychisch zu kaputt ist, um überhaupt arbeiten zu gehen? Wenn man nicht einmal mit Schicksalssschlägen zurecht kommt? Ich stütze meinen Kopf in meine Hände. Einatmen. Ausatmen. Ganz simple. Ein, aus, ein, aus. Alles würde gut werden. Alles ganz leicht. Ganz einfach. Es würde nicht so schwer werden. Jetzt stand ich noch am Fuß des Berges und dachte mir, dass ich es niemals schaffen würde. Aber ich musste einfach bloß anfangen zu klettern und zu schauen was dabei rauskam. Kühlen Kopf bewahren, Zähne zusammenbeißen und dutch alles durch, was auf dem Weg schief läuft. Man war der Loser, wenn man hinfiel und nicht mehr aufstand. Die anderen würden einen überrunden und über einen hinweg trampeln. Dann war man weg vom Fenster und wurde vergessen. Man musste stark bleiben und aufstehen, egal wie verführerisch es war, einfach liegen zu bleiben und zu sterben. Und ich würde aufstehen, egal was passierte. Ich würde weiter machen. Ganz sicher. Ich würde mich nicht unterkriegen lassen. Alles was ich brauchte war Optimismus, Disziplin und Mut. Und vielleicht auch ein wenig Herz...

Oh, my life...Where stories live. Discover now