N E U N Z I G

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D o l o r

Die ganze Nacht lang habe ich mich im Bett hin und her gewälzt. Ich habe lange darüber nachgedacht was ich zu ihm gesagt habe. Nun liege ich hier und starre mit schlechtem Gewissen an die Decke.
Was ich zu Vasco gesagt habe stimmt zum Teil zwar, aber das heißt nicht dass es richtig von mir ist so zu denken. Vor allem ist er mit Ria und Abuela die einzig richtige Familie die mir geblieben ist. Ich war ihm gegenüber nicht fair. Andererseits glaubt ein winziger Teil in mir, das richtige getan zu haben. Und zwar über meine Gefühle, die ich so lange verborgen habe, zu sprechen. Ich wünschte er würde dasselbe tun. Ich wünschte er würde kontern, mir sagen was ihm auf dem Herzen liegt und was er fühlt oder denkt. Er soll mich anschreien und sagen >Ich habe das alles getan um dich zu beschützen! Vor Folter, vor Erniedrigung, vor Schmerz und Leid!<, aber er tut es nicht. Er rechtfertigt sich nicht und nimmt alles was ich ihm an den Kopf werfe hin. Als würde ich mit allem was ich sage recht haben, aber das will ich nicht. Ich will hören wie sehr ich mich geirrt habe und wie falsch es von mir ist ihm diese Dinge vorzuwerfen.
Doch all diese inneren Wünsche erfüllt er nie. Er lässt alles was ich sage im Raum stehen ohne ein Widerspruch.
Er zeigt mir dass ich recht habe, ohne es wirklich auszusprechen. Wieso sonst widerspricht er mir nicht wenn ich ihm vorwerfe, dass er selbst Rositas Laden nidergebrannt hätte um mich zu sich zu locken?
Er hätte nur sagen müssen dass ich falsch liege und dass er so etwas nicht tun würde.
Aber er und ich wissen, dass er selbst das auch getan hätte. Trotzdem schaffe ich es nicht ihn zu hassen. Es sind seine Augen die mich so aus der Fassung bringen. Manchmal sieht er mich an als würden die nächsten Worte aus meinen Lippen entweder einen Strick um seinen Hals legen, oder diesen Strick lösen. Er hört mir zu weil er immer wissen will was ich denke, was ich fühle. Dennoch gibt er nie etwas von sich preis.
Es war alles besser, als ich mich mit ihm gut verstanden habe. Als wir langsam zu einem echten Ehepaar wurden. Aber dieser dunkle Abschnitt hat uns etwas genommen was nicht wieder gut zu machen ist. Jedenfalls glaube ich das langsam.

Ich setze mich auf und blicke auf die Uhr. Stunden sind vergangen und trotzdem kommt er nicht nach Hause. Schläft er etwa wo anders? Will er denn nicht nach Hause kommen?
Ich weiß nie, was Vasco macht und wo er sich herum treibt wenn er aus dem Haus ist. Im Grunde genommen weiß ich von nichts, was sich außerhalb dieser vier Wände abspielt. Und das macht mir Sorgen.
Außerdem frage ich mich wie es überhaupt dazu kam, dass er mich mitten in der Nacht so ausgefragt hat. Hat er wirklich mit Sergio geredet? Hat er Vasco erzählt was er weiß?
So muss es gewesen sein, wie sonst soll er den Verdacht hegen dass ich nicht durch Zufall entkommen konnte?
Mir dreht sich der Magen um wenn ich daran denke was für ein Risiko ich eingegangen bin indem ich mit Cassius gegangen bin. Vielleicht hat uns jemand gesehen? Vielleicht wurden wir erkannt? Ich hätte es nicht tun sollen, egal wie schön es war und wie normal ich mich durch Cassius gefühlt habe. Wenn auch nur für eine kurze Zeit, waren wir wie ein ganz gewöhnliches Paar auf einer Verabredung. Aber es war viel zu schön um wahr zu sein.

Wenn ich daran denke was passiert wenn Vasco davon erfährt ... ich habe nicht mal ein bestimmtes Bild davon. Ich versuche an mögliche folgen zu denken, sehe aber nur schwarz. Ist es so, weil ich es nicht weiß? Oder ist es weil ich die Folgen nicht wissen will?
Vorhin war er schon außer sich, obwohl er nur einen Verdacht hatte.

Manchmal glaube ich, dass meine Angst vor ihm größer ist als alles andere was ich ihm gegenüber empfinde. So hatte ich mir meine Ehe nicht vorgestellt. Eher dachte ich an Mamás Geschichten wenn ich mir vorgestellt habe verliebt zu sein. Aber stattdessen landete ich in einer Ehe die mir bis jetzt mehr Leid als Freude gebracht hat. Was Vasco da draußen wohl macht? Vielleicht weiß er mehr als ich glaube und sucht schon nach Cassius? Diese Entführung wird uns allen zum Verhängnis. Ich frage mich wirklich, wann alles herauskommt. Ich bete zwar für das Gegenteil, aber so wie es scheint wird er nicht locker lassen bis er weiß wie ich fliehen konnte. Andererseits wünscht sich ein kleiner Teil in mir, dass er es herausfindet und ich nicht mehr mit dieser Last leben muss. Ich will das alles nicht mehr mit mir herumschleppen. Diese Bürde, mit all den Sorgen und Ängsten.
Ich fasse es einfach nicht, dass ich seit dem Tod meines Vaters so furchtbar aufgeschmissen bin. Egal welche Entscheidung ich treffe, es scheint wirklich immer die falsche zu sein. Selbst wenn ich mich fest dazu entschließe alles ruhen zu lassen, meine Gefühle bei Seite zu legen und alles hinzunehmen was geschieht, gelingt es mir einfach nicht. Jedes mal versuche ich verzweifelt aufzugeben und leise zu sein, egal ob im Bordell oder Zuhause bei Vasco. So oft habe ich versucht das menschliche in mir abzuschalten um kein Leid mehr zu empfinden. Aber irgendwas in mir wehrt sich immer wieder gegen mein Schicksal. Trotzdem, ist das wohl der einzige Grund wieso ich überhaupt lebe. Nur einmal, wirklich einmal war ich bereit mein Schicksal zu akzeptieren. Das war als Vasco seine Waffe auf mich gerichtet hat kurz nachdem sich Ricardo an mir vergreifen wollte. Wie sehr ich mir gewünscht habe, dass Vasco abdrückt und dieses Elend endet.
Aber seltsamerweise hat es mir das Leben gerettet. Ich werde niemals vergessen wie Vasco mich angesehen hat als ich sagte er solle abdrücken.

LeyaWhere stories live. Discover now