D R E I

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L a  M u e r t e

00:34 Uhr

Der leere Blick meines Vaters graviert sich kaltblütig in meine Erinnerungen ein.
Voller Angst und Sorgen ist er mir entrissen worden. Er ist mit offenen Augen gegangen.

Ich habe in seinem Blick so vieles gelesen. Er hatte Angst um mich, weil ich jetzt allein mit diesen Monstern zurückbleiben würde und er hatte Angst um Ria. Er fragte sich bestimmt was jetzt aus uns werden würde. Er fühlte sich für alles verantwortlich. Ich weiß es, weil er immer diese traurigen Augen hatte, wenn er sich Vorwürfe gemacht hat. Er wird niemals in frieden ruhen. Niemals.

Leise vor mich hin weinend lege ich meinen Kopf auf seine Brust. Wie ein kleines verängstiges Mädchen suche ich nach Geborgenheit. Ich will und kann es nicht akzeptieren. Wie konnte ich zulassen, dass er vor meinen Augen stirbt? Wieso habe ich es nicht verhindert?
,,Ricardo, hätten wir ihm nicht lieber seine Medizin geben sollen? Uns wurde doch befohlen keinen Aufstand zu machen", höre ich plötzlich Sergios Stimme. Mein Kopf schießt in seine Richtung. Er blickt beschämt auf den Boden. Diese Männer gehören zu den Carroñeros?!
,,Sergio!", rufe ich entsetzt. Er aber antwortet mir nicht. Sieht mich nicht mal an. Wie kann er nur? Mein Vater war immer nett zu ihm! Er hat ihn wie einen Sohn behandelt, und er?!
,,Sieh mal einer an. Du kennst diese hübsche puta, Sergio?", lacht dieses Monster. Er nickt. Wutentbrannt brülle ich Sergio an.
,,Du Feigling!" Geschockt sieht er  letztendlich doch noch zu mir. ,,Mein Vater hat dich wie einen Sohn behandelt! Er hat dir immer geholfen wenn du Geld gebraucht hast oder in Schwierigkeiten gesteckt hast, du Schwein!"
Ricardo lacht auf und zupft an seinem schwarz gefärbten Bart. Er ist älter als die anderen Männer, vielleicht Ende dreißig.
,,Willst du das auf dir sitzen lassen Sergio?", fragt er ihn. Sergio zögert. Ricardo scheint das nicht zu gefallen. ,,Sind denn alle von euch hier kleine Coños?!", brüllt Ricardo ihn an und sieht zu den übrigen Männern die nichts sagen und alles beobachten. Wie Hunde, die auf ein Kommando warten.
Ich werde von einem Mann auf die Beine gezogen.

,,Fasst mich nicht an! Papá!", brülle ich weinend und will zurück zu ihm. Er soll doch nicht so alleine einfach da liegen! Er braucht mich doch!

Sergio stellt sich vor mich und sieht mich zögernd an. Dann holt er aus und ich kriege einen erneuten Schlag ins Gesicht. Meine Sicht ist benebelt, ich sehe schwarze Punkte vor meinen Augen.
,,Hättest du mich geheiratet, wäre das alles nicht passiert, puta", zischt Sergio giftig, als würde er damit sein Gewissen reinigen wollen. Voller Verachtung sehe ich ihm ins Gesicht. Sammle meine Konzentration, um sprechen zu können.
,,Hättest ... hättest du doch nur etwas Rückgrat bewiesen ...", murmle ich erschöpft und benommen vom Schlag.
,,Sie spricht ja immer noch!", lacht Ricardo. ,,Mal sehen wie viel du noch sprechen kannst, nachdem ich dich rangenommen habe."
Meine Augen weiten sich vor Schreck als ich diesen Satz höre. Ich werde von Ricardo an den Haaren mitgezogen.
,,Nein! Lass mich los!", rufe ich und will mich wehren, aber ich bin viel zu schwach. ,,Fass mich ...nicht an!"
Ich werde von Ricardo mit dem Gesicht auf eine Autohaube gedrückt. Ich schreie um Hilfe, aber nicht eine einzige Person scheint meine Schreie zu hören. Oder sie hören zu wollen.
,,Hilf mir mit ihrer Hose Sergio!", befiehlt Ricardo und hält meine Arme hinter meinem Rücken fest. Ich wehre mich mit aller Kraft, aber es bringt nichts.
,,Du kannst sie nach mir haben Sergio, versprochen!", lacht dieses Monster dreckig und zupft an meiner Hose.
,,Nein!", schreie ich panisch und kriege einen Arm frei mit dem ich mich versuche vom Auto zu drücken.
,

,Puta!", zischt Ricardo wütend und verdreht mir das Handgelenk, bricht es. Ich schreie schmerzerfüllt auf als ich erneut auf die Haube gedrückt werde. ,,Steh endlich still!", brüllt er und schlägt auf mich ein. Mir gelingt es irgendwie fest gegen sein Knie zu treten, sodass er nach hinten taumelt. Ich reiße mich sofort los und laufe so schnell ich kann. Dabei sehe ich nicht in Papás Richtung.
,,Haltet diese Hure fest!", brüllt Ricardo außer sich. Mit schmerzendem Handgelenk laufe ich die leeren Straßen entlang, verfolgt von fünf Männern. Ohne, dass ich mich umdrehe, höre ich Türen zuschlagen. Sie verfolgen mich mit ihren Autos!
Nach Hilfe schreiend laufe ich so schnell ich kann. Als ich einen Blick nach hinten werfe, sehe ich wie nah sie mir sind. Mein Herz platzt mir vor Adrenalin aus der Brust, meine Lungen brennen, aber ich höre nicht auf zu laufen. Den Schmerz meines gebrochenen Handgelenks schaffe ich zu ignorieren. Alles worauf ich mich konzentriere, ist von diesen Monstern zu fliehen. Ich laufe durch die sandigen Straßen, an mehreren Blocks vorbei und will in eine Seitenstraße laufen, als mir der Weg von einem schwarzen Wagen abgeschnitten wird. Als sich meine Augen an die Scheinwerfer gewöhnen, erkenne ich, dass es nicht eines der Autos dieser Männer ist. Ich laufe zum Wagen und klopfe hektisch an das Fenster des Fahrers.
,,Señor bitte helfen sie mir ich werde von Männern verfolgt, bitte Señor!", flehe ich weinend. Vor Panik erkenne ich nicht einmal die Personen die im Wagen sitzen. Als beide Wagen meiner Verfolger stehen bleiben, weiß ich, dass es vorbei ist. Ricardo steigt aus, sieht mich mit weit aufgerissenen Augen triumphierend an. Die Schwerkraft scheint sich verzehnfacht zu haben. Ich breche weinend auf dem Boden zusammen. Ich blicke zu Sergio, der noch im Wagen sitzt und im Gegensatz zu den anderen Männern nicht aussteigt. Ricardo packt seine Waffe aus und zielt mit seinem kranken Grinsen auf mich. Die anderen drei Männer haben den Wagen hinter mir im Visier und sind bereit, jederzeit zu schießen.

Das Einzige was mir dabei einfällt ist Papá, der allein und leblos auf diesem brüchigen Asphalt mehrere Blöcke entfernt liegt. Und Ria, die von nichts ahnend in ihrem Bett liegt und ohne Familie aufwachen wird. Wie schutzlos sie sein wird.
Ricardo kommt mir immer näher und packt mich am Arm. Seine Waffe ist auf meinen Kopf gerichtet. Wie ein Henker sieht er von oben auf mich herab. Alles wirkt plötzlich so bedeutungslos. Die Welt scheint für mich in Zeitlupe abzulaufen. Habe ich mein ganzes Leben nur gelebt, damit ich so sterbe? Was wird aus Ria, wenn nicht nur Papá, sondern jetzt auch ich sterbe? Sie sollte doch ein erfülltes Leben haben! Papá hat für uns so vieles auf sich genommen ... und jetzt?
Ich schließe die Augen. Höre Mamás Stimme in meinen Ohren hallen.

Manche Dinge kann man einfach nicht verhindern Leya, alles hat seinen Grund. Manche Dinge sollen wohl einfach passieren.

Stimmt das wirklich? Was für eine Bedeutung soll es denn haben, wenn meine kleine Schwester dieser grausamen Welt ganz alleine ausgesetzt ist? Was für einen Nutzen soll es haben, meinen Vater sterben zu sehen? Ihn leiden zu sehen?
Der Schmerz an meinem Handgelenk holt mich zurück ins hier und jetzt. Ich sehe alles verschwommen, weil meine Augen glasig und voller Tränen sind. Meine linke Wange pocht noch immer und der Schmerz an meinem Handgelenk scheint unermesslich zu sein. Das kalte Metall, das mir an die Stirn gedrückt wird, fühlt sich an wie mein persönlicher Richter. Mir wird erst jetzt klar, wie viel Macht ein Gegenstand besitzen kann. Wie schnell es über Leben und Tod entscheideen kann, sobald es von einem Menschen beherrscht wird.
Ich schließe erneut die Augen. Vielleicht ist es wirklich so.

Der Tod ist auch ein Teil des Lebens Leya.

Das sagte Papá nach dem Tod meiner Mutter. Ich fragte mich, wieso man dann überhaupt lebt, wenn am Ende alles doch nur zum Tode führt. ,Was ist der Sinn' - fragte ich mich schon immer. Aber wenn ich jetzt zurück denke, weiß ich es. Ich brauchte nur an Mamás Lächeln zu denken, an ihre sanfte Stimme. Oder an die Zeit mit Papá, als er mir das Lesen beibrachte. An Ria, wie sie immer vor Freude strahlte, wenn ich ihr Kuchen gebracht habe. An das Traubenfeld, welches so unendlich groß schien. An die brennende Sonne auf meiner Haut, die kühle Nachtluft. An die weiche Erde, die ich immer von mir waschen musste. Ich denke an die Geschichte, die Mamá mir immer erzählt hat. Das alles macht das Leben lebenswert. Der Tod soll einen wohl nur zwingen, das Leben zu schätzen.
Ich habe plötzlich so viele unbeantwortete Fragen, die mir durch den Kopf gehen.

Würde ich Mamá und Papá gleich wiedersehen? Wie soll ich ihnen in die Augen sehen? Wie soll ich ihnen sagen, dass ich Ria einfach zurück gelassen habe?

Ich halte staubigen Sand vom Boden in meiner Hand. Spüre, wie es durch meine Finger gleitet.
Würde ich bald unter der kalten Erde liegen und frieren? Oder würde ich einfach nicht mehr existieren? Wird der Tod genau so schlimm sein, wie die Menschen es glauben? Wieso kann es nicht auch etwas gutes sein? Vielleicht ... ist es doch nicht so schlimm, wie man denkt? Eines weiß ich aber ganz genau. Ria wird aufwachen und sich plötzlich so alleine fühlen, wie noch nie zuvor. Es tut mir so leid Ria.

Ich fühle mich überhaupt nicht dazu bereit zu sterben. Ich habe eine Verantwortung. Ich kann und will sie nicht einfach so zurück lassen. Ich will es nicht. Ich wollte noch so vieles vom Leben sehen!
,,Du dachtest du könntest einfach abhauen, was?", zischt Ricardo und spuckt auf den Boden. Ich knie vor ihm, als würde ich auf meine Hinrichtung warten.

,,Jetzt siehst du deinen Papá wieder, freu dich doch, puta."
Er entsichert seine Waffe. Dieses klickende Geräusch löst bei mir Gänsehaut aus.
,,Richte Gabriel viele Grüße von Ricardo aus während ich deine Leiche ficke", lacht er spöttisch.

Ein lauter knall.

Ich öffne die Augen. Ricardo fällt zu Boden. Ihm wurde in die Schulter geschossen. Wie versteinert sehe ich dabei zu, wie er sich auf dem Boden krümmt.
,,Patrón!", höre ich einen seiner Männer sagen. Aber es ist nicht an Ricardo gerichtet. Ihre Blicke gelten der Person die hinter mir steht.

,,Geh das nächste Mal gefälligst ran, wenn ich anrufe. Hijo de puta."

LeyaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt