Z W E I U N D D R E I ß I G

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H u m a n o

07:32 Uhr

Nach vielleicht nur zwei oder drei Stunden Schlaf, öffne ich die Augen. Das erste was ich sehe ist ein breiter Rücken der von Narben gezeichnet ist. Sie sind zwar verblasst, aber trotzdem klar erkennbar. Seine Muskeln machen es mir nicht einfach, mich nur auf die Narben zu konzentrieren.
Er schläft auf dem Bauch und sein Kopf ist nicht in meine Richtung gedreht, weswegen ich mir keine Sorgen machen muss, dass er mich erwischt wie ich ihn betrachte. Unter dieser ganzen dunklen Kleidung steckt wohl doch ein Mensch aus Fleisch und Blut. Zugegebenermaßen ein nahezu perfekter, wäre da nicht sein unberechenbarer Charakter. Ich habe ihn schon jemanden erschießen sehen, habe ihn jemanden ermorden sehen. Das alles hat mich vergessen lassen, dass er auch nur ein Mensch ist, auch wenn ich es kaum glauben kann. Vor allem aber bin ich mir sicher, dass es viel schlimmere Menschen gibt. Vielleicht sollte ich einfach mal versuchen den Menschen in ihm zu sehen und nicht das, was ich bis jetzt gesehen habe. Ich sollte wohl damit anfangen, ihn kennenzulernen. Gestern hat er mir ja auch irgendwie auf seine Weise gezeigt, dass er nicht komplett aus Stein besteht. Auch wenn es nur eine kleine Geste war, bin ich mir sicher, dass er mich nicht nur mit dem Handtuch abtrocknen wollte. Hinter seinen Augen hat viel mehr gesteckt, auch wenn er es versucht hat zu verbergen. Ich seufze.
Ich sollte die Gelegenheit nutzen und duschen gehen, während er schläft.

So unwohl wie ich mich fühle, stehe ich auf. Ich nehme mir vorher etwas frisches zum anziehen mit und schließe die Tür ab nachdem ich ins Bad gehe. Ich entledige mich meinen Klamotten und steige schnell unter die Dusche. Während ich mich wasche, überlege ich mir wie ich es schaffe mit Vasco sinnvolle Worte zu wechseln, ohne dabei in einen Streit zu geraten. Mamá sagte einmal, dass man Streit aus dem Weg geht, wenn man seinen Gegenüber immer gut behandelt, auch wenn man selbst von ihm schlecht behandelt wird. Papá erzählte mir auch einmal, dass wenn er und Mamá sich stritten, einer von ihnen nachgab und sich dem anderen auf gute Weise genähert hat. Da ich nicht glaube, dass Vasco das jemals tun wird, liegt es wohl nun an mir, ihm stets freundlich gegenüber zu treten. Ich möchte mehr über ihn erfahren, aber es auch tatsächlich aus seinem Mund zu erfahren wird nicht einfach.

Nach der Dusche wickle ich mich in ein Handtuch, dasselbe tue ich mit meinen Haaren. Ich trockne meinen Körper ab und ziehe ein hell rosanes Kleid an, dass mir bis über die Knie geht. Etwas anderes als Kleider gab es nicht im Schrank, aber bei dem heißen Wetter ist es auch nicht verkehrt etwas leicheres anzuziehen.
Weil ich keinen Fön finde, trockne ich meine Haare so gut es geht mit dem Handtuch ab und kämme Sie durch. Als ich fertig bin schließe ich die Tür leise auf und trete ins Schlafzimmer. Vasco ist wach, allerdings ist er nicht im Zimmer sondern raucht auf der Terrasse. Als er sieht, dass ich aus dem Bad gekommen bin, drückt er seine Zigarette in einem Aschenbecher aus und kommt wieder rein. Daran, dass er mich jedes mal mustert, habe ich mich gewöhnt. Oder eher zwinge ich mich dazu.
Er hat eine dunkle Hose und ein schwarzes, halb offenes Hemd an. ,,Brauchst du das Bad noch?", fragt er mich ruhig.
Ich schüttle den Kopf. Er nickt kurz, lässt seinen Blick an mir auf und ab gleiten und verschwindet ohne ein Wort im Badezimmer. Ich will das Zimmer verlassen um nach meiner Schwester zu sehen, aber die Tür ist abgeschlossen. Ungläubig rüttle ich an der Türklinke, aber nichts tut sich. Der Schlüssel ist auch nicht mehr da.
Das ist doch nicht sein Ernst! Hat er vor mich hier einzusperren?!

Als er nach einer Weile wieder aus dem Bad kommt, rüttle ich demonstrativ an der Tür und sehe ihn verständnislos an.
,,Wieso hast du abgeschlossen?", frage ich ihn. Er geht zu der Nachtkommode auf seiner Seite und zieht seine Armbanduhr an. Er ignoriert mich.
,,Würdest du bitte aufschließen?", frage ich ihn sauer.
,,Wieso? Damit du mir den ganzen Tag aus dem Weg gehen kannst?", fragt er mich stirnrunzelnd und kommt auf mich zu. Ich beiße die Zähne zusammen. Mir ist es viel lieber wenn er schläft, dann spricht er wenigstens nicht. Oder sieht mich nicht so dunkel an.
,,Ich wollte eigentlich nur nach meiner Schwester sehen", antworte ich ihm und beruhige mich als ich mich an die Worte meiner Eltern erinnere. Das darf jetzt kein Streit werden, das macht alles nur schlimmer.
,,Deine Schwester ist bestimmt nicht mal wach. Wieso bist du es überhaupt?", fragt er mich jetzt.
,,Ich habe schlecht geschlafen", sage ich und kann es mir einfach nicht verkneifen so eine Antwort zu geben. ,,Kannst du jetzt bitte aufschließen? Ich werde dir auch nicht aus dem Weg gehen, versprochen."
,,Du wirst vorher mit mir auf der Terrasse Frühstücken."
,,Musst du nicht arbeiten oder sowas?", frage ich ihn stirnrunzelnd.
,,Ich habe Zeit", sagt er knapp. Seufzend nicke ich.
,,Na schön", gebe ich nach und gehe an ihm vorbei auf die Terrasse. Zu meiner Überraschung steht ein gedeckter Tisch bereit. Als ich mich zu Vasco drehe sehe ich, dass er die Tür aufschließt und Bedienstete rein kommen die einen Wagen mit Essen hereinschieben. Ich setze mich an den Tisch. Vasco ist mit seinem Handy beschäftigt während er darauf wartet, dass die Angestellten fertig sind und das Essen abgestellt haben.
Nachdem das der Fall ist, setzt Vasco sich mir gegenüber und die Bediensteten lassen uns allein. Ich sehe ihn nur rätselnd an.
,,Was ist?", fragt er mich. Ich seufze.
,,Wenn du nicht du wärst, würde ich glauben, dass du wirklich an mir interessiert bist", sage ich und beobachte ihn dabei wie er seelenruhig beginnt zu essen.
,,Wer sagt, dass ich es nicht bin? Du wärst wohl kaum meine Frau und schon längst tot wenn ich es nicht wäre", gibt er stumpf von sich. Ich neige verständnislos den Kopf.
,,Und wieso bist du dann so zu mir?", frage ich ihn.
,,Wie bin ich denn?", fragt er mich und hält in seiner Bewegung inne. Seine Augen blicken abwartend von seinem Teller auf.
,,Das weißt du am besten", gebe ich sauer von mir. ,,Du hast mich bis jetzt nicht ein einziges Mal beim Namen genannt. Ich soll deine Frau spielen, das habe ich verstanden. Aber dann benimm du dich dementsprechend auch wie mein Mann und nicht wie mein Sklavenhalter."
,,Sklavenhalter? Ich wusste nicht, dass Sklavenhalter so viel zu bieten haben? Das muss ja eine Folter für dich sein, in einem so großen Haus zu leben und jeden Tag frisches Essen vor die Nase serviert zu bekommen. Wie grausam muss es sein, jedes Mal neue Klamotten zu tragen und zu sehen, dass es deiner Schwester und dir an nichts fehlt?", sagt er sarkastisch während er sich Oliven auf den Teller legt.
,,Du weißt genau, dass das alles nicht reicht um jemanden glücklich zu machen!", sage ich sauer.
,,Tue ich das?", antwortet er gleichgültig.
,,Ich habe dich nicht ein einziges Mal glücklich lächeln sehen. Das gehört aber dazu, wenn man glücklich ist weißt du? Zuhause habe ich das ständig getan als mein Vater noch am leben war und wir noch eine Familie waren ... aber davon verstehst du nichts."
Er rümpft genervt die Nase sieht mich auffordernd an. ,,Du hast recht, davon verstehe ich nichts und jetzt fang an zu essen."
Seufzend schüttle ich den Kopf und tue zögerlich was er sagt. Eigentlich wollte ich genau das vermeiden - das wir uns nach einer Diskussion anschweigen. Ich sollte versuchen uns in eine andere Situation zu lenken. Ich atme kaum merklich durch und spreche dieses mal ruhiger.
,,Wenn wir schon verheiratet sind und zusammen frühstücken, dann sollten wir uns wenigstens kennenlernen", sage ich und sehe ihn abwartend an während ich mir Gebäck auf meinen Teller lege. Er sieht mich kurz an, sagt jedoch nichts.
,,Na schön, dann fange ich einfach mal an", sage ich seufzend. ,,Ich bin achtzehn, falls es dich interessiert. Ich habe mein ganzes Leben lang auf dem Feld gearbeitet und auf Ria aufgepasst, nachdem meine Mutter aufgrund einer Erkrankung gestorben ist", erkläre ich ihm und sehe ihn kurz an. Er sagt nichts und hört mir zu.
,,Mein Vater war Schuhmacher, der Beste in unserem Viertel. Alle Menschen die ihn kannten, mochten und vertrauten ihm. Wenn die Leute Probleme hatten, baten sie Papá um Hilfe oder suchten nach Rat. Er war ein sehr guter Zuhörer, weißt du? Er hat vielen jugendlichen geholfen eine vernünftige Arbeit zu finden und sie aus der kriminellen Schiene befreit", sage ich und lächle bei dem Gedanken an Papá.
,,Wenn jemandem unrecht getan wurde, war mein Vater sofort zur Stelle. Viele Menschen bewunderten seinen Gerechtigkeitssinn und seinen Stolz. Ja, er war sehr stolz ...", seufze ich traurig. ,,Er hat es gehasst das Geld zu nehmen, was ich bei der Arbeit verdient habe. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht die Chance auf Bildung hatte und schon als Kind im Feld arbeiten musste. Unser Laden allein hätte aber niemals gereicht um die Miete und die Stromkosten zu bezahlen. Ich musste also arbeiten damit wir uns ein Dach über dem Kopf leisten konnten, aber ich habe es ihm niemals vorgeworfen. Das würde ich nie weil ich schon damals gewusst habe was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Schließlich war ich nicht nur Rias Schwester, sondern auch ihre Mutter", erkläre ich nachdenklich und stochere mit der Gabel in mein Essen.
,,Ich war trotzdem glücklich. Die Arbeit auf dem Feld war anstrengend, aber auch ein Teil von mir, weißt du? Dass ich nicht zur Schule gehen konnte, hat mich zugegebenermaßen traurig gemacht. Deswegen habe ich mich so gut es geht durch Bücher weiterbilden wollen, das ist auch der Grund wieso ich Englisch verstehe."
Ich sehe zu ihm. Er sitzt zurückgelehnt in seinem Stuhl und beobachtet mich aufmerksam.
,,Sprich weiter", sagt er mit interessierten Augen. Ein kleines Lächeln legt sich auf meine Lippen. Wenigstens klappt das.
,,Während ich eine Mutter für Ria war, war Rosita wie eine Mutter für mich. Sie ist eine Freundin unserer Familie und hat oft auf mich aufgepasst, als Mamá im Sterbebett lag. Sie ist wie eine Großmutter für mich und liebt Ria und mich wie ihre eigenen Töchter. Sie hatte eine Tochter, aber sie ist damals gestorben weil eine Kugel sie bei einer Schießerei erwischt hat. Rosita hat mir viele ihrer Klamotten geschenkt, Bücher und noch so Sachen. Auch haben wir unsere Geburtstage jedes Jahr mit ihr zusammen gefeiert. Sie hat eine Bäckerei wenige Blöcke von unserem Laden entfernt. Sie macht ausgezeichneten Kuchen und hat Ria jeden Tag ein Stück geschenkt, das ich nach der Arbeit bei ihr abgeholt habe. Sie hat sich auch um Ria gekümmert als ich weg war. Sie fragt sich bestimmt wo wir sind ...", murmle ich letzteres traurig. Sie hat bestimmt viel geweint. Plötzlich rattert es in meinem Kopf und ich sehe Vasco fragend an. Als er Ria das erste Mal hierher geholt hat, war Ria doch bei Rosita?
,,Wie kommt es, dass Rosita dir Ria überlassen hat? Das würde sie niemals tun", frage ich ihn stirnrunzelnd.
,,Deine Schwester ist mit uns gekommen als sie im Park gespielt hat. Diese Frau war wahrscheinlich arbeiten, deswegen wusste sie nichts von alledem", sagt Vasco.
,,Was?", frage ich ihn ungläubig. ,,Sie glaubt Ria wurde entführt? Vasco sie ist eine alte Frau dessen Tochter von Kriminellen umgebracht worden ist! Sie macht sich bestimmt große Vorwürfe!", sage ich besorgt und sehe ihn fassungslos an. Sie hat bestimmt einen Schock bekommen! Was, wenn sie einen Herzinfarkt oder ähnliches kriegt?
,,Sie hält das schon aus", sagt er gelassen. Ich atme tief durch und massiere mir sie Schläfen. Er beobachtet mich dabei einfach nur.
,,Was ist?", frage ich ihn jetzt deutlich schlechter gelaunt.
,,Ich kann ihr Geld hinterlassen wenn du willst. Als Wiedergutmachung", bietet er an. Ich sehe ihn überrascht an.
,,Das würdest du wirklich tun?", frage ich ihn. Er nickt.
,,Sie hat sich um meine Frau und ihre Schwester gekümmert. Sie sollte in ihrem Alter nicht mehr arbeiten müssen."
Nie wieder arbeiten müssen? Das würde er wirklich tun? Sie könnte endlich in Ruhe leben ...
,,Ich ... ich wäre dir wirklich dankbar wenn du das tun würdest", gebe ich zögerlich von mir. Er nickt verstehend und spricht.

,,Erzähl mir mehr von dir."

LeyaWhere stories live. Discover now