V I E R

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E l  P a t r ó n

00:52 Uhr

Die Stimme die ich hinter mir höre, klingt sehr wütend. Ich traue mich nicht einmal, mich zu bewegen. Der laute Knall tut noch immer in meinen Ohren weh und mein ganzer Körper zittert vor Angst.
,,Wieso habt ihr eure Waffen immer noch auf mich gerichtet?", zischt die selbe Person zu Ricardos Männern. Sofort stecken sie ihre Waffen weg.
,,Wir haben Sie nicht erkannt Patrón, es tut uns Leid!", sagt einer von ihnen hektisch. Sergio steigt aus dem Wagen.
,,Ricardo!", ruft er erschrocken, sieht dann zu mir und dann hinter mich. ,,Patrón...!"
,,Bezahle ich euch damit ihr Fangen spielt?", höre ich ihn hinter mir sagen. Im Hintergund hört man Ricardo schmerzerfüllt keuchen. Schritte kommen näher, ich traue mich nicht hoch zu sehen. Alles was ich sehe sind teure Schuhe die an mir vorbei gehen und grob gegen Ricardos Kopf treten. Hinter der Person stehen weitere Männer, die wahrscheinlich mit ihm aus dem Wagen gestiegen sind.
,,Steh auf", befiehlt er Ricardo, seinen Zustand ignorierend. Ricardo windet sich vor Schmerzen und scheint ihn nicht wahrzunehmen. ,,STEH AUF!", brüllt dieser Mann plötzlich, was mich zusammenzucken lässt. Ricardo sieht ihn voller Schrecken an und setzt sich so schnell es ihm möglich ist auf. Er zwingt sich auf die Beine und scheint mich schon vergessen zu haben. Sein Blut tropft auf den Boden.
Ein starkes ziehen erstreckt sich von meinem Handgelenk über meinen ganzen Arm. Keuchend halte ich mein Handgelenk und atme stoßartig.
,,Wieso reagierst du nicht auf meine Anrufe? Etwa kein Respekt vor mir Amigo? Nimmst du mich nicht ernst?", fragt dieser Mann Ricardo bedrohlich.
,,I-Ich ... habs nicht gehört ...Patrón. Es tut mir Leid", bringt Ricardo angestrengt heraus. Ich sehe kurz hoch, aber meine Sicht ist eingeschränkt durch meine Tränen. Als der Schmerz noch stärker wird, starre ich auf den Boden. Ich will aufstehen und weg von hier, aber mein Körper ist wie angewurzelt.
,,Du hast es also nicht gehört?", fragt der Mann spöttisch. Eine kurze Weile ist es still. Dann hört man ein Handy klingeln.
,,Patrón...", fleht Ricardo.
,,Ich finde, dass man das Klingeln sehr deutlich hört, oder Männer?", fragt er in die Runde. Man hört sie nur eingeschüchtert ,Sí Patrón' sagen. ,,Siehst du? Alle anderen stimmen mir zu Ricardo."
Seine Stimme ist sehr dunkel. Dieser Mann gehört also auch zu den Carroñeros? Diese Männer stehen unter seinem Befehl?
,,Das ist das erste und letzte Mal Ricardo, hast du mich verstanden?"
,,J-Ja Patrón. Das passiert nie wieder!", sagt Ricardo keuchend aber auch erleichtert.
,,Gut. Und jetzt sag mir wieso du ein Kind verfolgst."

Ich spüre Blicke auf mir. Alles in mir scheint still zu stehen. Mein Herzschlag, mein Atem, mein Verstand.

,,Sie ist nur eine puta die frech war, Patrón."
Sergios Stimme. Dieser elende Hund!
,, Patrón, sie hat sich Ricardo widersetzt", sagt einer der anderen. Es ist still.
Das Blut in meinen Adern gefriert, als ich sehe wie die Schritte dieses Mannes langsam auf mich zukommen. Ich atme hysterisch. Bei jedem Atemzug brennen meine Lungen und ich scheine fast zu kollabieren.
,,Sie ist die Tochter von einem Kerl der mir Geld geschuldet hat. Hab den Penner umgelegt", sagt Ricardo spöttisch. Die Schritte hören auf. Ich sehe nur lange Beine die vor mir zu stehen gekommen sind. Er steht direkt vor mir.
,,Hola (Hallo)", höre ich ihn leise sagen, sehe ihn aber nicht an. Ich antworte nicht. Kann es gar nicht. ,,Was haben diese Kerle mit dir gemacht, hm?", fragt er mich mit ruhigem Ton. Eine Welle von Schmerz durchzuckt mein Handgelenk. Ich sehe weinend auf den Boden und versuche es zu ertragen. Er atmet demonstrativ durch. ,,Na schön", sagt er und kniet sich auf meine Höhe. ,,Ich gebe dir noch eine Chance zu antworten. Sieh mich an", verlangt er mit Nachdruck in der Stimme. Langsam hebe ich den Kopf an. Ich blinzle meine Tränen weg und habe jetzt eine klarere Sicht auf den Mann vor mir. Stumm sieht er mich aus seinen grauen Augen an. Seine Haare sind ebenfalls dunkel und fallen ihm leicht ins Gesicht. Ernste Augenbrauen zieren sein Gesicht und umschmeicheln die Farbe seiner Augen. Er ist vielleicht mitte Zwanzig. Gerade Nase, schöne Lippen, glatt rasiertes Gesicht. Viel zu gepflegt um von hier zu sein.
,,Sieh mal einer an ... una belleza (... eine Schönheit)", sagt er mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen. Er streckt eine Hand nach mir aus und berührt meine schmerzende Wange. Ich schrecke zurück.
,,Fass mich nicht an!", zische ich reflexartig. Er belächelt meine Reaktion.
,,Y tiene una voz hermoza también. (Und eine schöne Stimme hat sie auch noch.)" Er zieht seine Hand zurück und sieht mich erwartungsvoll an. ,,Was soll ich jetzt mit dir machen?", fragt er mich nachdenklich.
,,Lass mich gehen", schießt es ängstlich aus mir heraus. Stumm sieht mich eine Weile lang nur an. Er rümpft arrogant die Nase. ,,Abgelehnt."
Ich sehe ihn an, als könnten meine Augen betteln.
,,Bitte Señor", flehe ich. ,,Ich muss meinen Vater begraben Señor, bitte!"
Mein Herz zerbricht in Millionen Teile bei dem Gedanken, dass mein Vater ohne eine Menschenseele dort liegt. Er ist ganz allein. Ein Mann eines solch reinen Herzens, hat es nicht verdient so zu sterben.

Er beobachtet mich nur, ohne eine Miene zu verziehen. Triefend vor Trauer schreie ich ihn an. ,,Bitte Señor ich muss zu ihm!"
Er aber sagt nichts und sieht mir nur dabei zu. Ich schluchtze in unregelmäßigen Abständen und weine wie ein kleines Kind. Ich vergrabe meine gesunde Hand im staubigen Boden und senke meinen Blick. ,,Papá ...", flüstere ich sehnsüchtig vor mich hin. Verzeih mir Papá...

Plötzlich spüre ich, wie er meinen Kopf am Kinn wieder anhebt. Ich bin wie versteinert vor Angst und sehe ihn aus großen Augen an. Er durchbohrt mich mit seinen Augen, als würde er versuchen, sich jedes Detail meiner Gesichtszüge zu merken.
,,Du willst deinen Papà sehen?", fragt er mich plötzlich ruhig. Ich nicke schnell. Eine gewisse Zeit lang sieht er mich nur an, bis er dann wieder spricht. ,,Dann geh. Niemand hält dich."
Ich blicke ihn verwirrt an. Versuche auszumachen, ob er es ernst meint oder es nur ein Trick ist. Er nickt in die Richtung woher ich kam, ohne von meinem Gesicht wegzusehen. Er will mich wirklich gehen lassen? Eben hat er doch nein gesagt?
,,Geh schon. Oder gefällt es dir hier?", fragt er kalt und stellt sich wieder aufrecht hin. Ich stehe vom Boden auf. Er hat einen schwarzen teuren Anzug an, erscheint gar nicht wie eines dieser Leute aus der Verbrecherbande. Keiner seiner Leute sagt etwas. Ricardo sieht mich dunkel an. Ich traue mich nicht, an ihnen vorbei zu gehen. Ich muss aber, wenn ich zurück gehen will.
,,Geh schon!", sagt dieser Mann eindringlich und sofort fange ich an zu laufen. Ich vergesse meine Schmerzen, meine Erschöpfung und laufe. Ich laufe so schnell es geht zu Papá.

× × × × ×

01:14 Uhr

Ich lasse mich neben Papàs Körper zu Boden fallen. Ich weine mir das Leben aus dem Leibe als ich seine offenen Augen so sanft wie möglich schließe. Ich küsse ihn auf die Stirn, umarme ihn. Bin nicht bereit ihn einfach so gehen zu lassen.
,,Papá...", weine ich leise vor mich hin.
,,Mach dir keine Gedanken um Ria oder mich. Ich lebe noch Papá. Ich werde für uns beide Sorgen, du musst dir keine Sorgen um uns machen. Du kannst in Frieden ruhen. Es geht uns gut..."
Ich spüre wie die Wärme seinen Körper verlässt. ,,Es geht uns gut Papá..."
Ich merke überhaupt nicht, wie langsam einige Nachbarn aus ihren Wohnungen treten und mir ganz plötzlich helfen wollen. Ich spüre die Hand einer Frau auf meiner Schulter. Sofort schüttle ich sie ab und sehe sie giftig an. Um mich herum hat sich ein Kreis gebildet.
,,Geht weg! Haut ab, ich brauche eure Hilfe nicht!", schreie ich all diese Menschen an. Ich kenne jeden einzelnen von ihnen und sie kennen uns. Und doch haben sie meine Schreie ignoriert, obwohl sie alles aus ihren Fenstern beobachtet haben. Letztendlich kümmert sich jeder nur um sich.
,,Wir müssen einen Krankenwagen rufen Kind", sagt die selbe Frau und sieht mich mitleidig an.
,,Ich brauche keinen Krankenwagen! Er ist Tod! Er ist Tod weil keiner von euch mir geholfen hat!" Ich versuche meinen ganzen Zorn herauszuschreien, aber es fühlt sich an, als würde sich nur noch mehr davon anstauen.

,,ICH HABE EUCH GEBRAUCHT ALS MEIN VATER NOCH AM LEBEN WAR. JETZT BRAUCHE ICH EURE HILFE NICHT! FUERA! HAUT AB!"

Ich lehne meine Wange an die meines Vaters, um ihm Wärme zu schenken.
,,Ich habe Hilfe gebraucht als sein Herz noch geschlagen hat", bringe ich nur heiser hervor. ,,Wir brauchen euch nicht, verschwindet...!"
Ich schließe die Augen und halte meinen Vater in den Armen. Ich streiche über seine weichen Haare, als würde es die Tatsache ändern, dass er ohne jemanden an seiner Seite gestorben ist. Als würde es diesen grausamen Tod rückgängig machen.
Papá liegt in meinen Armen, als würde er schlafen und gleich wieder aufwachen. Als würde er nur ein kleines Nickerchen halten, wie er es immer tut, wenn er erschöpft von der Arbeit kommt. Ich atme seinen vertrauten Duft ein und wiege ihn fest umklammernd hin und her. Versuche seinem toten Körper Geborgenheit zu schenken.
Die Menschen stehen nur um uns herum und sagen nichts. Manche versuchen auf mich einzureden, aber ich ignoriere sie. Ich vergieße stumme Tränen während ich seine Hand in meine nehme. Je mehr ich versuche seinen Körper warm zu halten, desto kälter wird er. Ich spüre, wie mir eine Decke um die Schultern gelegt wird.
,,Ein Krankenwagen kommt gleich...", sagt jemand betrübt. Ich reagiere nicht und lege die Decke auch um Papá. Drücke meine Lippen weinend gegen seine Stirn.

LeyaWhere stories live. Discover now