V I E R U N D Z W A N Z I G

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P r o p u e s t a

11:33 Uhr

Fassungslos sehe ich ihn an. Ich zweifle daran, dass ich das richtige gehört habe. ,,Was?", frage ich ihn ungläubig.
,,Heirate mich oder geh wieder nach Hause. Ich überlasse dir die Entscheidung", sagt er und lässt mein Handgelenk los. Er will an mir vorbei gehen, aber ich halte ihn auf. ,,Nein, du gehst jetzt nicht einfach weg!", sage ich aufgebracht und schneide ihm den Weg ab.
,,Ich werde keinen Mann heiraten der mich tagelang gefangen gehalten und mich bei jeder Gelegenheit erniedrigt hat! Reichen dir denn deine zwei Frauen nicht? Wieso sollte ich zu so etwas absurdem ja sagen? Ich liebe dich nicht einmal, ganz im Gegenteil - ich hasse dich! Du bist widerlich, hörst du?!", sage ich aufgebracht.
,,Ist das deine endgültige Antwort?", fragt er mich wie die Ruhe in Person. Ihn regt es nicht mal auf, dass ich das alles gesagt habe!
,,Ja!", zische ich sauer.
,,Dann kannst du gehen. Nimm deine Schwester, ihr werdet nach Hause gefahren." Er geht ohne jeglichen Ausdruck in seinem Gesicht an mir vorbei und verlässt den Raum.

Ich gehe raus in den Garten und sehe schon Ria, die einen Welpen in ihrer Hand hält. Sie spricht aufgeregt mit Clara und lächelt bis über beide Ohren. Einen kurzen Moment lang zögere ich. Sie so zu sehen, trifft mich zugegebenermaßen wie ein Schlag. Es nimmt mich mehr mit als ich dachte, dass ein fremder Mann ihr so ein Leben bieten kann, aber ich nicht. Sie verdient es, all ihre Träume verwirklichen zu können. Ich würde ihr die Welt schenken, wenn ich es aus eigener Kraft könnte, aber ich kann es nicht. Sie könnte für immer so leben...

Schnell schüttle ich den Gedanken ab. Nein, nicht so. Ich kann bei keinem Mann bleiben, der für Papás Tod verantwortlich ist. Egal ob direkt oder indirekt, ich sehe kein Unterschied zwischen Vasco und Ricardo. Ich gehe zu Ria, nehme sie an der Hand und gehe mit ihr in Richtung Ausgang. ,,Wohin gehen wir?", fragt sie mich verwirrt.
,,Nach Hause", sage ich und gehe die Flure entlang.
,,Aber ich will hier bleiben!", sagt sie traurig. Es bricht mir das Herz.
,,Wie kannst du das sagen Ria? Das ist nicht unser Zuhause!", sage ich enttäuscht. Sie reißt sich plötzlich von mir los.
,,Ich will nicht zurück! Dort erinnert mich alles an Papá! Dort bin ich unglücklich! Ich hasse es dort ich will hier blei-"
Ehe sie ihren Satz beenden kann, landet meine flache Hand auf ihrer Wange. Aus tränenden Augen sieht sie mich an und hält sich die schmerzende Stelle.
,,Kein Wort mehr!", zische ich wütend und zerre sie weiter. Stumm folgt sie mir. Wir treten aus der Haustüre in den Vorhof wo ein Wagen auf uns wartet. Misstrauisch bleibe ich stehen. Der Fahrer steigt aus und hält uns die Tür auf.
,,Woher weiß ich, dass du uns nach Hause fährst?", frage ich ihn.
,,Don Vasco hat mir befohlen Sie zur dieser Adresse zu fahren." Er zeigt mir einen Zettel, auf dem die Adresse unseres Zuhauses steht. Ich atme tief durch und nicke. Er öffnet uns die Autotür. Ich dränge Ria in den teuren Wagen und ohne auch nur ein letztes mal zurück zu sehen, steige auch ich ein. Er fährt los.

× × × × ×

14:23 Uhr

Vascos Villa war oben auf einem Berg. Wir waren weiter weg, ich glaube außerhalb Culiacáns. Als wir endlich in unserer Nachbarschaft ankommen, atme ich tief durch. Der Albtraum ist endlich vorbei.

Der Wagen bleibt vor unserem Zuhause stehen. Ria war, wie ich bereits vermutet hatte, die ganze Zeit über bei Abuela. Ich muss zu später zu ihr, weil ich ihr eine Erklärung schuldig bin. Sie ist bestimmt krank vor Sorge.

Wir steigen aus. Der Fahrer steigt ebenfalls aus und kommt zu mir. Er drückt mir ein Handy in die Hand.
,,Falls Sie sich umentscheiden, rufen Sie die Nummer an, die in dem Handy gespeichert ist." Er geht wieder zurück zum Wagen und fährt davon. Ich werfe das Handy in eine naheliegende Mülltonne. Ich nehme Ria an die Hand, aber sie zieht sie wieder weg und starrt traurig auf den Boden. Ich seufze und hocke mich hin.
,,Bist du sauer?", frage ich sie und blicke ihr entschuldigend in die Augen. Sie dreht sich weg. ,,Es tut mir leid, Ria", sage ich sanft und streichle ihr über die Haare. Ich wische ihr die kleinen Tränen weg. ,,Jetzt wird alles besser, versprochen."
Sie sieht mich an und nickt anschließend. Ich schließe sie in eine feste Umarmung. ,,Komm, lass uns rein gehen", sage ich und reiche ihr meine Hand.
Sie hält meine Hand und zusammen gehen wir durch unser Gartengitter. Ich hole die Ersatzhausschlüssel aus ihrem Versteck und will die Tür aufschließen, als sie plötzlich aufgerissen wird. Eine Frau und ein Kind stehen in der Tür.
,,Quién eres?", fragt sie mich wer ich bin. Ich sehe sie verwirrt an.
,,Esta es mi casa. Qué haces aquí?", frage ich was sie hier zu suchen hat.
,,Nos mudamos, esa es nuestra casa. Desaparece!", zischt sie plötzlich und knallt die Tür wieder zu. Ungläubig klopfe ich gegen die Tür. Niemand macht auf. Ich will die Hausschlüssel einstecken, aber das Schloss wurde geändert! Ich schlage gehen die Holztür. ,,Eh! Abre la puerta!", rufe ich aufgebracht, dass sie aufmachen soll. Die Tür wird aufgerissen. Dieses Mal steht ein Mann vor mir. Er trägt ein dreckiges Hemd, Shorts und hat ein Bierbauch.
,,Was soll dieser Lärm?!", fragt er aufgebracht.
,,Das ist ein Missverständnis, ich und meine Schwester wohnen in diesem Haus!", sage ich aufgewühlt. Was geht hier vor sich?!
,,Der Vermieter hat euch schon lange rausgeschmissen! Das Haus stand zum Verkauf und wir haben es gekauft! Und jetzt geh mir aus den Augen bevor ich wütend werde!", droht er und zeigt demonstrativ seine Faust. Ria krallt sich ängstlich an mich.
,,Na los! Verschwindet!", brüllt er. Ich zucke erschrocken zusammen, nehme Ria an die Hand und verlasse schnell das Grundstück. Ich bleibe an einer Seitenstraße stehen und setze mich auf den Bürgersteig, nicht verstehend, was gerade passiert ist raufe ich mir die Haare. Was mache ich jetzt? Der Vermieter hat uns wirklich rausgeschmissen...!
,,Was machen wir jetzt?", fragt Ria mich traurig. Nervös suche ich nach einer Antwort. Plötzlich fällt mir Papás Schuhladen ein.
,,Wir gehen einfach in Papás Laden. Dann schlafen wir eben dort", erkläre ich und versuche mich zusammen zu reißen. Sie blickt traurig auf den Boden.
,,Keine Angst, ich bin bei dir", sage ich tröstend. Ich gehe mit meiner Schwester an der Hand die Straßen entlang. Voller Sorgen gehe ich jeden Schritt, habe Angst davor, dass ich es nicht schaffe mich um meine Schwester zu kümmern. Als wir in die Straße abbiegen die zum Laden führt, bleibe ich kurz stehen und sehe zu der Stelle, auf der Papà gestorben ist. Es ist genau vor dem Laden passiert... genau hier...
,,Leya, unser Laden...!", holt mich Ria entsetzt aus meinen Gedanken. Ich sehe hin. Mir verschlägt es den Atem. Ein zweites Mal fühlt es sich so an, als hätte man mir den Boden unter den Füßen entrissen. 

LeyaWhere stories live. Discover now