Z E H N

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E l  E x t r a ñ o

12:13 Uhr

Er betrachtet mein Gesicht gründlich, genau wie das erste Mal als wir uns begegnet sind. Ich kann mich noch immer nicht bewegen, obwohl ich den Drang habe, meine Oberweite zu verdecken. Auch wenn er nicht hinsieht, hat er freie Sicht auf meinen Bauch und mein BH. Er hockt sich hin. Mit einer einfachen Bewegung, zieht er mein Oberteil wieder runter. Ich kriege bei dieser einfachen Geste Gänsehaut, bin ihm dafür aber auch sehr dankbar. Sein Blick ist hart, seine Ausstrahlung bedingungslos autoritär und jedes seiner Bewegungen mit solch einer Eleganz vollzogen, dass ich mich wirklich frage, was ein Mann wie Ricardo bei ihm zusuchen hat.

,,Du hast also einen seiner Männer abgestochen?", fragt er mich ohne Ausdruck in seinen Augen und zieht seine Hand wieder weg. Er blickt mich abwartend an. Ich blicke von ihm weg und starre an die graue Decke. Diese Frage erinnert mich daran, was gerade eben fast geschehen wäre. Ich komme langsam wieder zu Sinnen und beginne zu schluchzen. Von weitem ertönt ein lauter Schrei, das mich wieder erstarren lässt. Es kommt von dem Mann, der eben geknebelt war und weggeschleppt wurde. Ich fühle mich wie in der Hölle. Ich frage mich nur, wie viele Menschen vor mir schon hier waren.
,,Du solltest es lieber lassen mich zu ignorieren", gibt er kalt von sich. Im Hintergrund ertönt Ricardos schmerzerfülltes Keuchen. Ich blicke schwach ins Gesicht dieses fremden Mannes. Jetzt wo er mir so nah ist erkenne ich, dass er graue Augen mit ein paar dunklen Flecken hat. Wie ungewöhnlich...
,,Jetzt, wo du das alles hier gesehen hast, kann ich dich nicht mehr gehen lassen", sagt er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. ,,Das erste Mal hattest du Glück, aber jetzt kann ich nichts für dich tun, auch wenn du nur ein dummes Kind bist." Er beobachtet meine Gesichtszüge, sucht nach einer Reaktion. Ich aber, bin kaum in der Lage ihm vernünftig zuzuhören. Mein Kopf tut so weh...
,,Steh auf", befiehlt er. Ich kann es aber nicht, alles an mir tut weh. Stumm bleibe ich liegen.
,,Na schön. Dann bleib eben hier."
Er richtet sich wieder auf und geht in Richtung Tür. Ich sehe zu Ricardo, der sich schmerzerfüllt am Gitter der anderen Zelle festhält. Angst überkommt mich.
Nein! Ich will nicht hier bleiben! Wenn ich bleibe, dann wird er zurückkehren und mir alles heimzahlen!

Keuchend erzwinge ich mir etwas Kraft und richte mich auf. Ich stütze mich mit dem Ellebogen der gesunden Hand vom Boden ab. Unter Schmerzen wimmere ich als alles wieder beginnt zu brennen und zu pochen. Ich will mich übergeben, aber in meinem Magen befindet sich nichts.
Ich sehe wie dieser Mann stehen geblieben ist und mich beobachtet. Nachdem ich es schaffe mich aufzusetzen, suche ich den Raum nach meiner Taschenuhr ab. Als ich sie in der hinteren Ecke entdecke, stütze ich mich mit wackeligen Beinen an der Wand ab und gehe hin. Keuchend bücke ich mich und hebe es vom Boden auf. Das Glas ist zerbrochen und die Uhr funktioniert nicht mehr. Schniefend klappe ich die Uhr zu und schiebe es in meine Hosentasche. Mühevoll richte ich meine Hose und mein Oberteil, um mich zu sammeln und einen klareren Kopf zu kriegen. Ich blicke zu diesem Mann. Ich kann ihn nicht einschätzen. Ich weiß nicht ob er mir hilft oder ob er es einfach tut, weil es ihm ungelegen kommt, dass ich hier bleibe. Es ist das zweite Mal, dass er mich aus den Händen dieses Monsters rettet, ihn geschweige denn erschießt. Mir ist klar, dass er es nicht wegen mir, sondern wegen Ricardos Ungehorsamkeit tut, aber er hat mich schon das zweite Mal vor etwas schlimmen bewahrt und dafür kann ich nicht anders, als ihm dankbar zu sein. Auch, wenn er keinesfalls zu den guten Menschen auf dieser Welt gehört.

Er steht in der Tür der Zelle und blickt unbeeindruckt zurück. Ich weiß nicht genau, was ich tun soll. Soll ich ihm folgen? Soll ich warten, bis er etwas sagt? Ich traue mich nicht zu sprechen, also bleibe ich einfach nur stehen.
,,Komm her", sagt er schlecht gelaunt. Mit zitterndem Körper gehe ich vorsichtig auf ihn zu. Dass ich ihn nicht einschätzen kann, macht mich unruhig. Er ist unberechenbar, das sieht man allein schon daran, dass er seine eigenen Leute erschießt und Menschen gefangen hält. Wie nannte Ricardo ihn noch gleich ... Don Vasco?
Die Männer, die den Mann erschossen haben der mir helfen wollte, sagten auch, dass sie unter Don Vascos Befehl stehen würden. Wer ist dieser Mann?

Ich bleibe vor der Zelltür stehen, sehe ihn erst gar nicht an. Plötzlich zückt er erneut seine Waffe und richtet sie auf mich. Starr sehe ich in den Lauf der Pistole, dann zu ihm. Er sieht mich mit diesen gleichgültigen Augen an, in denen ich nicht eine einzige Emotion erkennen kann. Ich sage nichts, während es mir eiskalt den Rücken herunter läuft. Er spricht, seine Stimme ist tief, aber nicht von Monotonie geprägt. ,,Ich kann dich nicht gehen lassen, das heißt, dass ich dich entweder verkaufen oder töten muss. Die zweite Option ist weniger umständlich. Ich hoffe du verstehst das." Sein Ton ist die Ruhe selbst.
Wenn er spricht, scheint er diesen kahlen Wänden etwas Leben einzuhauchen, obwohl er nach außenhin genau dasselbe wie diese Wände verkörpert - Härte, Kälte und eine gewisse Einsamkeit. Wie widersprüchlich...
Er sieht so aus, als würde er mir etwas völlig selbstverständliches erzählen und dabei zeigt er nicht einen Hauch von Mitleid. Überhaupt scheint es ihm egal zu sein, weil er keine schlimmen Folgen befürchten muss. Wobei ich mich frage, ob dieser Mann so etwas wie Furcht oder Skrupel kennt. Leute wie er können morden, ohne dafür verurteilt oder bestraft zu werden, jedenfalls nicht in dieser Welt.

Er entsichert seine Waffe. Ich beiße die Zähne zusammen. Es macht mich fertig, in was für einer verdorbenen Welt wir Menschen leben. Jeder richtet über jeden. Alle denken nur an sich selbst. Das meinte Mamá also, als sie von Egoísmo sprach. Ich seufze und lasse erschöpft die Schultern hängen.

Ich bin an einen Punkt angelangt, an dem es mir nichts mehr ausmacht zu sterben. Es hätte schlimmer kommen können. Mamá sagte doch immer, dass in allen schlechten Dingen etwas gutes steckt. Jetzt weiß ich, was sie damit sagen wollte. Ich hätte auch von Ricardo vergewaltigt und verstümmelt werden können, bin es aber nicht. Das Einzige was mich aber an dieses Leben klammert, ist Ria. Wer wird sich um sie kümmern, wenn ich sterbe? Sie wird am Boden zerstört sein, wenn sie erfährt, dass ich tot bin. Sie ist bestimmt schon krank vor Sorge...

Die Zeit will nicht vergehen. Noch immer hat er nicht abgedrückt. Der Mann beobachtet mich stattdessen einfach nur. Ich atme tief durch und spreche. ,,Dann drück doch ab", sage ich und sehe ihm in die Augen. Wieso zögert er es so hinaus? Genießt er diesen Anblick etwa?
Er legt die Stirn in Falten. Ich fahre fort. ,,Wieso rechtfertigst du dich überhaupt? Drück doch einfach ab, statt es so hinauszuzögern."
Er sagt nichts, die Waffe weiterhin auf mich gerichtet. Ich erinnere mich an die Worte meiner Mutter und atme tief durch. ,,Mamá sagte immer, dass Menschen zögern, wenn sie sich bei etwas nicht sicher sind. Was macht dich also so unsicher, señor?"
Nachdenklich hebt er eine Augenbraue und spricht. ,,Du scheinst den Tod zu umarmen."
Ich sehe ihn weiterhin an. Es bringt nichts um mein Leben zu betteln. Das hat es ja auch bis jetzt nicht, sonst wäre ich kaum hier.
,,Ich finde mich nur damit ab", antworte ich wahrheitsgemäß. ,,Es hätte auch schlimmer kommen können."  Mein Blick fällt bei diesen Worten auf Ricardo, der uns mit schmerzverzerrtem Gesicht beobachtet.
,,Verstehe", sagt er ruhig und wirft ebenfalls einen Blick zu diesem Feigling. Eine kurze Zeit ist es still, dann spricht er. ,,Wenn du willst, kannst du ihn vorher töten", sagt er plötzlich. Ich sehe ihn verwirrt an.
,,Betrachte es als ein kleines Geschenk. Er hat doch deinen Vater getötet, wenn ich mich nicht irre?"
Ich sehe zu Ricardo, der uns aus großen Augen betrachtet und panisch wird. Er atmet laut und schnell, wird bei diesen Worten von Angst ergriffen.

Ich erinnere mich daran, wie er meinen Vater nidergeschlagen hat. Daran, als ich dabei zusehen musste wie mein Vater Schmerzen erleidet, obwohl er genau vor mir lag. Wie er mich festgehalten hat und schadenfroh gegrinst hat. Ich habe einen Menschen noch nie so sehr gehasst, wie ihn. Bei diesen Gedanken hallt Mamás zarte Stimme in meinem Kopf.

,Solange du dir selbst treu bleibst, wird dich das Leben belohnen Leya.'

Ich atme tief durch. Sie hat mir das alles nicht umsonst beigebracht. Ich habe nicht vor, als Mörderin zu sterben.
,,Ich will dein Geschenk nicht", antworte ich ruhig. So schwach wie ich bin, hätte ich sowieso nicht mal die Kraft aufbringen können, den Abzug zu drücken oder die Waffe überhaupt hochzuhalten. Ich blicke diesem Mann ernst in die Augen. Aufmerksam hält er den Blickkontakt, während ich spreche. ,,Du solltest dir selbst einen Gefallen tun und dich aus alledem befreien. Mir scheint es nämlich so, als würdest du in einem Teufelskreis stecken."
Ich nehme meine kaputte Taschenuhr, lege sie mir um den Hals und wende meinen Blick ab. Er schnaubt verächtlich.
,,Was lässt dich das denken?", fragt er jetzt mit hartem Ton. Ich sehe ihm wieder in diese plötzlich so vielsagenden Augen. Sie scheinen bei meinen Worten leicht zum Leben erwacht zu sein. Ich habe also recht.
Er sagt nichts, wartet wie üblich einfach nur ab während er mit der Waffe noch immer auf mich zielt. Ich antworte ehrlich.

,,Du zögerst immer noch, Señor."

LeyaWhere stories live. Discover now