Z W Ö L F

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C u r a

20:17 Uhr

Nachdem diese Valeria das Zimmer wütend verlässt, sehe ich zu Isabella.
,,Komm, du solltest dich wieder hinlegen", sagt sie und kommt näher. Ich weiche zurück.
,,Was soll das alles?", frage ich sie. Sie runzelt die Stirn und blickt mich verständnislos an.
,,Wieso bin ich hier?", frage ich erneut.
,,Du hast also auch keine Ahnung?", fragt sie überrascht. Nachdenklich kratzt sie sich das Kinn. ,,Komisch..."
,,Ich will nach Hause", sage ich unruhig. Seufzend sieht sie mich an und sagt nichts. ,,Was ist?", frage ich sie, ihre Haltung nicht verstehend.
,,Das geht leider nicht. Du musst hier bleiben", antwortet sie.
,,Aber wieso?!", frage ich sie aufgebracht.
,,Hör auf mir Fragen zu stellen!", zischt sie jetzt sauer. ,,Na los, leg dich ins Bett. Ich muss deine Temparatur messen."
Auffordernd nickt sie in Richtung Bett. Unsicher, ob ich auf sie hören soll, bleibe ich stehen. Sie seufzt genervt. ,,Hör zu chica, wir können das auch ganz anders klären wenn du willst. Aber ich glaube nicht, dass du das willst geschweige denn überhaupt kannst. Nicht in diesem Zustand", sagt sie seufzend und mustert mich. Still tue ich was sie verlangt und setze mich zurück ins Bett. Sie deckt mich zu und holt aus der Schublade der Nachtkommode ein Thermometer.
,,Kannst du mir sagen, wo ich bin?", frage ich sie jetzt ruhig und umklammere mit der Hand eingeschüchtert die Decke.
,,Mund auf", sagt sie. Unsicher sehe ich das Ding in ihrer Hand an und öffne meinen Mund. ,,Streck die Zunge hoch", sagt sie. Ich tue es. Sie steckt mir das Thermometer in den Mund.
,,Kannst du mir jetzt sagen-"
,,Nicht sprechen!", zischt sie. Ich sage nichts. Sie ist kurz still, spricht dann aber.
,,Du bist im Haus von Don Vasco. Der Kartellboss der Carroñeros", antwortet sie mir. So etwas habe ich mir schon gedacht. Er ist also der Boss der Carroñeros. Aber soweit ich weiß, war das doch jemand anderes? Jemand namens Salvador oder ähnliches.
,,Du wirst mir gleich erzählen was alles passiert ist. Ich will alles wissen, hast du mich verstanden?"
Ich nicke schnell. ,,Gut. Ich bin Isabella."
Sie nimmt das Gerät wieder aus meinem Mund. ,,37,5 Grad. Sieht gut aus."
Sie steht auf, geht zur Tür und öffnet sie. ,,Clara, bring unserem Gast etwas zu essen", ruft sie in den Flur und schließt die Tür wieder. Sie setzt sich auf den Rand des Bettes und sieht mich erwartungsvoll an. ,,Na los, sag mir was alles passiert ist. Wie kommt es, dass du hier bist? Woher kennst du Vasco?"
Ich zupfe unruhig an der Bettwäsche und denke an das Geschehene.
Als mir das alles wieder einfällt, breche ich leise in Tränen aus. Sie legt verwirrt die Stirn in Falten. Ich spreche zögerlich.
,,Ich ... Ich weiß es selbst nicht so genau.", antworte ich wahrheitsgemäß.
Stimmt ... wie und wieso kam ich hierher? Ich habe keine Ahnung. Ich erinnere mich nur an diese Autofahrt, aber ich war so erschöpft, dass ich den Rest der Fahrt nicht mitbekommen habe.
,,Jetzt spuck schon aus", drängt sie mich streng. Ich sehe auf meine Hände.
,,Mir sind eine Reihe von schlimmen Dingen passiert. Dieser ... Vasco ist nur zufällig dazu gestoßen. Er ... er wollte mich eigentlich umbringen, hat es aber dann doch nicht getan. Jetzt bin ich hier."
Sie sieht mich ungläubig an und verschränkt die Arme.
,,Und jetzt nochmal die Wahrheit", sagt sie sauer und verschränkt ihre Arme. Es klopft an der Tür. ,,Komm rein Clara", sagt Isabella. Eine Frau mit roten Haaren, strengem Dutt und Arbeitskleidung kommt herein. Sie ist ungefähr Mitte dreißig. Sie kommt herein und legt ein Tablett auf meinem Schoß ab. Eine warme Suppe mit Brot, Obst und Wasser. Ich glaube in dem Haus gibt es eine Klimaanlage, weil es hier nicht im geringsten so heiß ist wie draußen.
,,Kann ich noch etwas für Sie tun señora?", fragt die Bedienstete.
,,Nein, du kannst gehen."
Sie nickt und verschwindet aus der Tür.
,,Na los, iss bevor es kalt wird. Du musst vor Hunger sterben. Seit gestern lagst du nur im Bett und hast geschlafen."
Ich sehe sie überrascht an. Was? ,,Seit gestern? Ich bin seit gestern hier?", frage ich sie. Sie nickt.
,,Du warst in einem miserablen Zustand. Der Hausarzt sagte, dass du wirklich Glück hattest. Noch ein bisschen länger und man müsste dir die Hand amputieren wegen der Infektion und der Schwellung. Als ich deine Klamotten gewechselt habe, hattest du überall Prellungen und Kratzer."
Ich beiße die Zähne zusammen und wische meine Tränen weg. Seit gestern bin ich ...! Ich muss schnell zurück zu Ria!
,,Denk erst gar nicht daran. Um das ganze Haus sind Wachleute aufgestellt. Du bleibst schön hier, aus welchem Grund auch immer." Sie deutet auf die Suppe. ,,Iss. Du kannst mir später erzählen was passiert ist."
Ich nehme den Löffel vorsichtig in die linke Hand und fange ungeschickt an zu essen. Noch nie hat mir Suppe so sehr geschmeckt wie jetzt. Es ist als würde ich pure Energie in mich aufnehmen und immer mehr zu mir kommen. Hungrig beiße ich vom Brot ab und nehme den Löffel wieder in die Hand. Isabella sieht mir die ganze Zeit dabei zu.
,,Manieren hat man dir wohl nicht beigebracht, was?", murmelt sie herablassend. Ich sehe sie fragend an. ,,Nichts", sagt sie seufzend. Ich esse schnell weiter. Nachdem die Suppe leer ist, sehe ich zum gemischten Obstteller auf dem Tablett. Als ich die Trauben entdecke, halte ich inne. Sofort überkommt mich tiefe Trauer. Ich erinnere mich an die pralle Sonne, das sanfte wehen der Weinblätter im Wind und die frische Erde. An meinen Sonnenhut und meinen alten Rucksack. Die Arbeit auf dem Feld war ein Teil von mir, auch wenn es harte Arbeit war. Aber bestimmt bin ich schon längst rausgeflogen ...

,,Magst du keine Trauben?", fragt sie mich spöttisch. Ich schüttle schnell den Kopf und schlucke schwer.
,,Ich mag Trauben", antworte ich knapp und esse auch das Obst. Sie sieht mir weiterhin dabei zu.
,,Wie heißt du eigentlich?", fragt sie mich.
,,Leya", antworte ich knapp und esse ein Stück Ananas.
Sie nickt. ,,Wie alt?"
,,Achtzehn", sage ich.
,,Du bist also volljährig. Du siehst jünger aus", murmelt sie. Ich nicke. Als ich aufgegessen habe, legt sie das Tablett auf der Nachtkommode ab. Erwartungsvoll sieht sie mich an.
,,Jetzt rede. Ich will alles wissen", sagt sie. Ich schlucke schwer.
,,Ich will nicht darüber reden", sage ich ohne sie anzusehen.
,,Musst du aber", sagt sie streng. Ich schlucke nervös. Sie hat sich um mich gekümmert, dann sollte ich ihr doch wenigstens eine Antwort geben, oder?
Ich atme tief durch und fange an zu erzählen. Ab den Moment, an dem ich Papá zum Laden gefolgt bin.

× × × × ×

02:34 Uhr

Es ist mitten in der Nacht. Ich habe Isabella alles erzählt. Die Nacht von Papás Tod, wie Sergio mich entführt hat und mich vergewaltigen wollte, wie ich geflohen bin und in Ricardos Hände geriet, wie sie den Mann erschossen haben der mir helfen wollte, wie ich in dieser Zelle aufgewacht bin und Ricardo dasselbe wie Sergio versucht hat, und wie Vasco mich beide Male verschont hat.
Ich habe viel geweint und musste mich zusammenreißen, um überhaupt Worte über die Lippen zu bringen. Ich habe gemerkt, dass ihr Gesichtsausdruck weicher wurde. Sie hat mir beruhigend über den Arm gestreichelt und gesagt, dass es jetzt vorbei wäre und ich in Sicherheit bin. Aber so schön es hier auch ist,  ich fühle mich nicht im geringsten sicher. Ich habe ihr von meiner Schwester erzählt und ihr versucht klar zu machen, dass ich zurück muss, aber sie hat abgelehnt. Sie ist letztendlich raus gegangen und hat mich in Ruhe gelassen, damit ich mich ausruhen kann. Ich bin mir aber ganz sicher, dass ihr meine Erzählungen über Vasco missfallen sind. Sie sah aus, als würde sie mir den Kopf abreißen wollen, als ich ihr erzählt habe wie er seine Waffe gesenkt und mich verschont hat. Sie hat sich kurz darauf aber wieder beruhigt und mir über den Arm gestreichelt und gesagt, dass ich mich ausruhen und einfach abwarten soll. Als ich sie fragte, ob ich ihn nicht wenigstens sprechen könnte, sagte sie, dass er seit gestern nicht im Haus war. Er wäre öfters weg und keiner wüsste wohl, wann er zurückkommen würde.

Jetzt liege ich in diesem Bett und denke nach. So viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Das Leben hatte mich nach alledem tatsächlich belohnt. Ich lebe noch. Ich kann bald zurück zu Ria und sie in die Arme nehmen. Es dauert nicht mehr lange!

Nachdenklich streiche ich über die glatte Bettdecke. Ich bin mit dem Gesicht in Richtung Tür gedreht. Bestimmt ist das so, weil ich mich nicht wohl fühle und weil ich mich nicht auf die schmerzende Wange legen will. Ich kriege kein Auge zu. Überhaupt wundere ich mich, wie ich seit gestern durchgeschlafen habe. Ich war wohl wirklich erschöpft.

Aus dem Flur ertönen plötzlich Stimmen. Ich stehe vorsichtig auf und lausche an der Tür. Es sind zwei Personen.
,,Du bist zurück", höre ich Valerias ungewohnt sanfte Stimme durch die Tür hindurch.
,,Wieso bist du noch wach?", fragt jemand kalt. Es ist Vasco.
,,Ich habe auf dich gewartet", antwortet Valeria. Sie hört sich ganz anders an. Viel netter und sanfter.
,,Geh schlafen." Ich höre Schritte.
,,Warte!", sagt Valeria. Die Schritte verstummen. ,,Wieso ist dieses Mädchen hier?", fragt sie. Ich höre aufmerksam zu, damit ich nichts verpasse. Aber sie kriegt keine Antwort. Wieder Schritte. Sie spricht.
,,Antworte mir-"
,,Geh schlafen Valeria!", unterbricht er sie dunkel. Eine kurze Zeit höre ich nichts. Dann höre ich, wie sich ihre Schritte zögerlich entfernen. Schnell klettere ich wieder ins Bett. Will nicht dabei erwischt werden, wie ich gelauscht habe. Ich lege mich schnell rein und spitze die Ohren. Es ist nichts mehr zu hören.

Nervös beiße ich auf meine Unterlippe und überlege zu ihm zu gehen und ihm ... ihm was? Soll ich ihm danken? Soll ich sagen, dass er mich sofort gehen lassen soll? Ich verstehe überhaupt nicht, was sein Zweck ist. Wieso behalten die mich hier? Vielleicht darf ich auch morgen schon gehen? Das erste Mal, hat er mich auch gehen lassen, vielleicht wollte er mich einfach nur gesund pflegen lassen? Ich meine, das alles haben seine Männer mir angetan. Vielleicht ... vielleicht ist es eine Wiedergutmachung und ich tue ihm nur leid?

Ich sollte lieber bis morgen abwarten. Ich würde mich doch nur verirren, so groß wie dieses Gebäude ist. Ich atme tief durch und schließe die Augen. Versuche, ein wenig zu schlafen.

LeyaWhere stories live. Discover now