54.Kapitel: Dort wo nur Staub bleibt

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Er wollte sie aufhalten, aber er konnte es nicht. Er wusste das er sie dann entgültig verliehren würde.
Hilflos musste er mit ansehen wie sie auf den Balkon, ein Stockwerk tiefer sprang und damit seinem Blick entschwand. Dann hörte er sie auf dem Pflaster aufkommen und zählte ihre Schritte, bis er sie nicht mehr hören konnte.
Sie halten als endloses Echo in seinem Kopf wieder, wieder und wieder.
Eine Folter die sein Geist ihm auferlegte, um ihn zu verspotten.

Ein Gefühl des fallens machte sich in ihm breit. Als hätte er jeden Halt in der Welt verloren, seine Mitte, seine Atemluft. Er erstickte.
All das war seltsam vertraut.
Sie hatte sich schon einmal von ihm abgewandt. Damals, als er getötet hatte um sie zu beschützen und sie sein Gesicht gesehen hatte. Damals war sie zu ihm zurück gekommen, nachdem sie sich beruhigt hatte.
Würde sie es wieder tun?

Doch dieses mal war es anders. Sie hatte sich nicht vor seinen Zähnen erschreckt, sondern vor seinen Taten.
Nicht, weil er wie ein Monster aussah, sondern weil er sich wie eines verhalten hatte.

Hatte sie recht, hatte er sich von seinem Zorn leiten lassen, von Rachelust und Hass, ohne es zu merken?

Vielleicht. Er wusste es nicht. Er verstand es nicht, es war zu viel und wie sollte er es begreifen, wenn Sie nicht bei ihm war. Denn solange sie fort war, kreisten seine Gedanken nur um Sie, unfähig zur ruhe zu kommen oder sich auf etwas anderes zu richten.

Shind unter ihm setzte sich in bewegung. Er wollte ihr folgen, auch er liebte Ri. Ein Befehl von Kajatan ließ ihn verharren, doch die Bestie wirkte nicht glücklich.

„Du darfst nicht zu ihr. Sie will dich gerade nicht sehen.“
Er wusste selbst nicht, ob er mit ihm oder mit sich selbst redete. Denn darin waren sie beide gleich, in dem Sehnen nach einer einzigen Person. Nach Ihr.

Ri stolperte durch ein Trümmerfeld. Steine und Sand gaben unter ihren Stiefeln nach und erschwerten ihr das voran kommen. Um sie her, waren die Häuserschluchten eingestürzt und hatten einen offenen Himmel zurück gelassen. Eine weite fläche, die sie mit ihrer strahlenden perfektion verhöhnte, den unter ihr war die Hölle ausgebrochen.

Menschen rannten an ihr vorbei, kein Auge für die seltsame Kriegerin, die so apatisch die Straße hinunter wanderte. Sie wollten zu ihren Angehörigen, zu ihrer Familie. Ungewiss wie viel von ihnen noch übrig war und Ri war daran Schuld. An jedem schmerz verzehrten Gesicht, das sich ihr flüchtig zuwandte, an jeder Träne in den Augen eines Kindes und dem Weinen der Frauen, die ihre Ehemänner beklagten.
Ihre Schuld.

Diese Tatsache grub sich unerbittlich in ihr Herz und brachte es immer wieder zum stolpern.
Natürlich, Kajatan hatte die Katastrophe ausgelöst, aber sie hätte ihn aufhalten müssen, hätte es kommen sehen müssen.
Am ende war sie unfähig gewesen auch nur zu begreifen was sich vor ihr abspielte, bis es zu spät war.
Sie konnte ihm schlecht die Schuld geben, wenn sie genauso beteiligt gewesen war.

„Hilfe.“
Die Stimme war nur schwach, aber in Ris Ohren klang sie überdeutlich, denn ihr Ton erzählte von Schmerzen. Sie kam von Rechts, aus einem zerstörten Hauseingang, aus den Trümmern.

„Bitte, hilfe.“
Wieder nur ein Flüstern, als fehle dem Sprecher die Kraft sich deutlicher bemerkbar zu machen.
Ris Innerstes zog sich zusammen. Dort war jemand. Jemand, der vielleicht verwundet war, jemand der vielleicht sterben würde.
Sie musste etwas tun.
Ehe sie recht darüber nachdenken konnte, wühlte sie sich durch den Schutt, immer wieder Steinen ausweichend, die durch ihre Bewegungen weg rutschten.
Dann sah sie ihn.

Es war ein kleiner Junge, nicht älter als zehn Jahre mit Angst in den Zügen, die so zerbrechlich wirkten und Dreck auf Haut und Haar als wäre er vorzeitig gealtert.

Ri kämpfte sich Schritt für Schritt näher.
Da erst entdeckte sie seine Beine, oder eher, entdeckte sie nicht.
Steine und Geröll hatten diese unter sich begraben und vielleicht zertrümmert. Wie viel von seiner unteren Körperhälfte noch übrig war, konnte sie nicht sagen, doch es quoll kein Blut darunter hervor und das ließ sie hoffen.

„Es wird alles gut, ich bin gleich bei dir,“
rief sie ihm zu, ehe sie den Schutthaufen hinunter zu klettern begann, der sie trennte. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren und ruderte mit den Armen, doch dann war sie schließlich bei ihm.

„Ich hole dich da raus, halte nur noch etwas durch.“
Der Junge schien ihre Worte kaum noch wahr zu nehmen. Der Schmerz hatte seinen Blick verschleiert und war dabei ihn an einen anderen Ort zu führen.
Panik stieg in ihr auf. Wenn er diesen Ort einmal erreicht hatte, wäre es zu spät für ihn.
Sie musste sich beeilen, die Trümmer entfernen, oder der Junge würde sterben.

Golem waren stark. Viel stärker als gewöhnliche Menschen, aber hier half ihr das nichts. Wann immer sie etwas von dem Geröll bei Seite räumte, rutschten mehr davon nach, so das sie bald einsah, das es wenig Sinn hatte so zu arbeiten. Sie musste dir Tacktick ändern und begann zunächst die oberen Steine zu entfernen.
Ein grau, gelber Klotz nach dem anderen, landete neben ihr, weit genug entfernt um kein Risiko da zu stellen.
Ihre Bewegungen waren schnell und hastig. Schweiß lief ihr in Gesicht und ließ ihre Sicht verschwimmen, sie ignorierte es. Sie musste es schaffen, sie musste einfach!

Es dauerte lange, viel zu lange, bis sie den ganzen Haufen abgetragen hatte. Doch endlich schaffte sie es und konnte den Jungen hervor ziehen.
Ein trügerischer Moment des Glücks verstrich, ohne das er sich regte.

Er rührte sich selbst dann nicht, als sie ihm sanft die Wange tätschelte. Seine kalte Wange.

Ri erstarrte. Das konnte nicht sein, durfte nicht.
Und doch war es so.
Das Leben war aus ihm entwichen, wie Wasser aus einer kaputten Schale und nur Scherben waren geblieben.

Scherben, die in Form eines reglosen Körpers vor ihr lagen.
Er war tot.
Wie der Golem in der Arena und wieder war es ihre Schuld.
Dem Jungen hatte sie zwar nicht das Schwert an die Kehle gesetzt, aber auch für seinen Tot war sie verantwortlich.

Ein jäher Schrei ließ sie hochschrecken. Vor ihr stand eine Frau, bedeckt von einer Schicht aus Staub und Blut, Schrammen, von ihrem Kampf ins Innere der Gebäudeübereste zierten ihre Haut.
Die Hände hatte sie vor den Mund geschlagen, die Augen, aus denen zwei glitzernde Spuren sich ihren Weg hinab suchten, waren auf den Leichnam gerhäftet.

„Letten,“
keuchte sie, dann richtete sich ihr Blick auf Ri. Die erkannte ein schnelles Spiel aus Verwunderung, Entsetzen und Schmerz in ihren Augen, dann brach es aus der Frau hervor.

„Raus! Raus aus meinem Haus, du Mörderin, du Monster!“

„Aber,“
wollte Ri erklären, doch die Frau griff nach dem ersten Stein, der ihr in die Hände geriet und schleuderte ihn ihr entgegen.

„Raaaauus!“
Der Mund, der diese Wort brüllte, war verzehrt, wie das Loch, das der Tot ihres Sohnes in ihre Brust geschlagen haben musste.
Die feinen Tränen Spüren waren zu Sturzbächen angewachsen und sie Kreischte. Einen Stein nach dem anderen schleuderte sie der Golem entgegn, die sich hastig erhob.
Eines der Geschosse traf sie an der Schulter, ein jähes aufflammen von Schmerz, kurz und spitz. Aber sie empfand keine Wut gegen die Frau, nur alles überlagernde Trauer.

Sie hatte es verdient. Der Junge war ihretwegen gestorben.
Ob die Frau im Kolloseum gewesen war und sie als Veruhrsacherin des Sturms erkannt hatte?
Es spielte keine Rolle, sie wusste, das sie es gewesen war.

Kajatans Worte kamen ihr wieder in den Sinn, wärend sie durch die Trümmer floh. „Ob sie jetzt sterben oder später, was spielt das für eine Rolle?“

Es machte einen Unterschied ob man durch die Hand eines anderen starb oder auf natürliche Weise.
Aber wäre ein solcher Tod wirklich besser?
War der Untergang, zu dem sie die Menschheit verurteilte wirklich besser als das hier?

Auch dann würde es weinende, schreiende Menschen geben, Leichen und Blut. Konnte sie damit Leben?
Mehr als mit dem hier?

Vielleicht hatte sie Kajatan zu vorschnell verurteilt. Ja, er hatte sich von Zorn leiten lassen, aber sie hatte ihre Augen vor der Wahrheit verschlossen.
Die Befreiung ihres Volkes würde vielen Menschen das Leben kosten.
Es war nicht richtig was sie taten, aber am ende versuchten auch sie nur zu überleben.

Das Herz der GolemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt