72.Kapitel: Dort, der Aufbruch in die Schatten

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Die Golem, oder eher die gesammelten Erinnerungen ihres Volkes, sahen sie abwartend an. Aber Ri war nicht in der Lage etwas zu erwiedern.
Sie sollte der Blutlinie der Königinen entstammen?
Was machte das aus ihr?

Sie fühlte sich nicht das kleinste bisschen herrschaftlich. Noch vor Minuten hatte sie kurz davor gestanden sich in der Finsternis zu verlieren, nichts was einer aus dem Königshaus passieren dürfte.
Sie hatte die Erinnerungen an die Königinnen vor ihr gesehen. Hatte zugeschaut wie diese großen Frauen ihr Reich regierten, den Blick voller Stolz und im Herzen nichts als Mut.
Wie konnte sie, die so klein und voller Fehler war sich mit ihnen vergleichen?

Mit ihren Gedanken kroch sofort wieder Kälte in den Raum um sie her.

„Du darfst nicht an dir zweifeln Ri. Du hast was es braucht.“
Die Golem machte erschrocken einen Schritt auf sie zu und riss sie damit aus dem Strudel aus Angst und Verzweiflung, der sie erneut hinunter ziehen wollte.
Ri blinzelte verwundert und sofort normalisierte sich die Temperaturen wieder.

„Du weißt wo du hier bist?“
fragte sie nun, deutlich ruhiger.
Ri nickte langsam. Sie wusste es tatsächlich. Sie befand sich in dem Bewusstsein eines anderen Wesens. Wie sie Nachts in ihr eigenes abtauchte, so befand sie sich nun in dem von jemand anderem. Nur von wem?

„Das wirst du bald erkennen.“
Versprach die andere Golem ihr.
„Wichtig ist jetzt erst mal, das du begreifst was um dich geschieht. Du weißt was diese Kälte ist?“

Wieder konnte Ri nur stumm nicken. Auch das wusste sie, hatte das Wissen aber erst als solches erkannt, als die Frage danach gestellt wurde.

Angst.
Die Kälte war nichts anderes, als verzehrende, alles erstickende Angst.
In wessen Verstand sie sich auch immer befand, es war seine, nicht ihre. Trotzdem konnte die Kälte nach ihr greifen und versuchen sie hinunter zu ziehen. Mit jedem Gedanken, mit jeder noch so kleinen Empfindung von Sorge, half sie ihr dabei.

„Richtig.
Hass mag schlimm sein und jemanden dazu bringen grausame Dinge zu tun, aber auf der Welt gibt es keine schrecklichere Empfindung als Angst.
Nicht nur weil sie der Ursprung vieler negativen Emotion ist, wie Zorn, der aus der Angst entsteht für schwach gehalten zu werden. Oder Neid, der aus der Angst entsteht nicht genug zu bekommen, wovon auch immer. Sondern auch weil sie dich stumpf macht, jedem anderen Gefühl gegenüber.
Du kannst nicht verzeihen, keine Freude empfinden oder auch nur klar denken, wenn du Angst hast.
Es ist nicht Hass der unser Volk gefangen hält, sondern diese kalte und verzehrende Emotion. Angst.“

Ri ließ die Worte durch ihren Geist wandern und spielte sie immer wieder ab. Langsam begriff sie. Als hätte einem Bild Teile gefehlt und nun, wo sie sie erhalten hatte, konnte sie es endlich richtig sehen.
Das Schwarze, was die Menschen damals in den Geist ihrer Rasse gegossen hatten, war Angst gewesen. Das war es, was ihre Verbindungen vergiftete. Sie hatten es getan, aus Angst die Golem würden ihren Platz an der Spitze der Nahrungskette einehmen und sie vom Angesicht der Erde wischen.

Das Bild, das sie als letztes gesehen hatte, bevor sie hier hinunter gezogen worden war, kam ihr wieder in den Sinn.
Der große Kristall, er existierte noch. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber es ergab Sinn, schließlich musste die Kontrolle über ihr Volk aufrecht erhalten werden. An ihn angekettet hatte eine Frau gestanden.
War das die Schwester der Königin?

Möglich.
Aber wer sie auch war, es war ihr Bewusstsein in dem sie sich gerade befand und ihre Kälte, die sie fast erstickt hatte.

Wie lange musste sie schon so leben?
Angekettet und zerfressen von Angst, die über das bloße fürchten vor etwas hinaus ging?
Mitleid schwappte in Ri hoch.
Kein Wesen hatte es verdient ständig diesem schwarzen Meer ausgesetzt zu sein, das einen zu ersticken versuchte.

Die andere Golem nickte, als sie den Wandel in Ri spürte.
„Richtig, sie braucht deine Hilfe, so wie du meine gebraucht hast.
Du darfst nicht zögern, nicht zurück weichen und vor allem, musst du deinem Herzen folgen.“
Sie lächelte, doch einen Moment lag beinahe etwas trauriges in ihrem Blick. Es verschwand, so schnell das Ri sich fragte, ob es nicht eine Täuschung war, hervorgerufen von den ständig wandelnden Zügen.

„Geh zu ihr.“
Sie deutete in die Finsternis, wo Ri meinte den gekrümmten Schatten von etwas ausmachen zu können.

Die andere hatte ihr gesagt, sie solle auf ihr Herz hören.
Ri legte eine Hand auf die Stelle unter der es schlug und spürte dem gleichmäßigem klopfen nach. Kräftig und sicher pumpte es ihr Leben durch ihre Adern.
Sie würde genauso sicher sein, das schwor sie sich, dann machte sie den ersten Schritt auf die Frau in den Schatten zu.

Hielt dann aber in der Bewegung inne und wandte sich noch einmal an die Golem, die aus den Erinnerungen ihres Volkes entstanden war.
Sie stand noch immer da und blickte sie freundlich und abwartend an.

„Warum zeigst du dich erst jetzt?“
Die Frage hatte sie gleich zu Beginn stellen wollen, es dann aber beinahe vergessen.
„Ich meine. Ich hätte deine Hilfe schon früher gut gebrauchen können.“
Fast hatte sie Sorge, das ihre Worte zu respektlos waren und die Andere verärgerten, aber die lächelte nur wieder traurig.

„Ich war da. Von Anfang an. Als du das erste mal die Grenze überschritten hast. Als du fast gestorben wärest und die ganze Zeit dazwischen. Ich habe dir geholfen, wann immer ich konnte. Habe dir Erinnerungen und Eindrücke geschickt, die dich zu Erkenntnissen bringen sollten und meistens haben.
Manchmal braucht man nur ein Gegenüber, so wie jetzt.
Ich war nur nie dazu gedacht mich einzumischen.“
Jetzt war der kummervolle Ausdruck in ihren Augen ganz deutlich.

„Ich konnte es, weil ein wenig der Schöpferkraft des Herrn der Wüste in mir gespeichert ist. Aber es ist nun nicht mehr viel.“
Sie hob ihre Hand und öffnete die Finger, die sich beinahe flehend um etwas geschlossen hatten.
In ihrer Handfläche lag ein winziges Korn. Nicht größer als ein Fingernagel und in einem kräftigen Gold glühend, das einen neuen Morgen versprach.

Ri konnte ihre Augen nicht von dem pulsierenden Punkt abwenden. Er strahlte eine solche Macht aus und doch wirkte dieses Strahlen auf seltsame Weise gütig.

„Nimm du es. Du brauchst es dringender als ich.“
Mit einer schnellen Bewegung warf sie Ri das Könchen zu, die es reflexartig fing.
Verwundert sah sie auf das winzige Stück eines Gottes, das Kräfte enthielt, die sie nicht erahnen konnte.

Sie wusste nicht recht was sie sagen sollte, ob das alles gut oder schlecht war, aber das entschiedene Lächeln der Anderen ließ sie schweigen.

„Und jetzt geh. Sie wartet auf dich, auch wenn sie es nicht weiß.“

Langsam nickte Ri.
Sie hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend, auch wenn sie keinen hatte. Etwas, das sie fürchten ließ die Golem nie wieder zu sehen. Sie mochte nur aus Erinnerungen bestehen, aber trotzdem fühlte sie sich an wie ein wirkliches, lebendiges Wesen.

Sie winkte ihr aufmunternd zu und Ri wandte sich wieder um. Vor ihr lagen nichts als Schatten und das Licht lag hinter ihr. Trotzdem schritt sie in die Finsternis hinein und ließ die Andere zurück.
Sie sah nicht, wie das Lächeln auf deren Lippen erstarb und die Gestalt langsam in der Dunkelheit zu versinken begann. Ihr Körper zerfasserte und fiel außeinander bis das Licht vollkommen erloschen war. 

Das Herz der GolemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt